Es wirkte wie bewusstes Timing: Am Tag, bevor der neue deutsche Kanzler zu seinem Antrittsbesuch im Pariser Elysée-Palast anreiste, präsentierte der französische Präsident (wieder einmal), wie er sich ein künftiges Europa vorstellt. Es war eine bombastische Ansage anlässlich des französischen Ratsvorsitzes im ersten Halbjahr 2022 – und eine an die deutsch-französische Achse unter dem neuen Ampel-Leuchten aus Berlin.
Die Achse ist ja das Kernstück des europäischen Selbstverständnisses: Nie wieder Krieg, haben die in zwei Weltkriegen feindlich verbundenen Großmächte Frankreich und Deutschland in den 1950ern zur Maxime der Europäischen Wirtschafts-Gemeinschaft gemacht, der Vorläuferin der Europäischen Union. Und die Achse hat, auch abseits des neuen Europa-Pazifismus, Bestand. Einmal inniger, etwa unter Giscard d’Estaing und Helmut Schmidt, die das europäische Währungssystem erfanden; dann wieder spröder wie unter Emmanuel Macron und Angela Merkel, dem Visionär und der Vorsichtigen, dem Stürmer und der Bremserin.
Jetzt stürmt Macron wieder. Der Franzose, der seit jeher mit großer Geste große europäische Skizzen hinwirft – ohne je eine verwirklicht zu haben –, träumt von einem erneuerten Schengen-Raum, von einer gemeinsamen Verteidigung und von neuen Haushaltsregeln: „Wir müssen von einem Europa der internen Zusammenarbeit zu einem starken Europa in der Welt kommen, das frei entscheidet und sein Schicksal in die Hand nimmt“ – und eine Präsidentschaftswahl müssen wir 2022 auch schlagen, hätte Macron hinzufügen können.
Ob der Franzose mit Olaf Scholz weiter hupfen wird als mit Angela Merkel, ist fraglich. Nicht nur, weil der neue Kanzler mehr seiner Vorgängerin gleicht als einem kühnen Weltenbürger wie Helmut Schmidt. Die gemeinsame Verteidigung ist eine ewige Schimäre; der vor mehr als einem Jahr in die Schublade gelegte Migrationspakt auch; die Telefonnummer, die Henry Kissinger in Sachen EU-Außenpolitik anrufen wollte, wird es nie geben. Beim Streben nach der Aufweichung der europäischen Schuldenregeln wiederum leuchtet Macron aus der deutschen Ampel das Gelb der FDP entgegen; und bei der Klassifizierung von Atomkraft als grüner Energie heißt das Rot aus Deutschland die Grünen.
In der Realität abseits des französischen Wahlkampfs muss sich die Achse Paris-Berlin eher um den Bestand der EU kümmern, wie wir sie kennen. Sie muss das Erodieren am Ostrand verhindern bei Aufrechterhaltung der rechtlichen und moralischen Standards (Stichwort: Polen, Ungarn). Oder anders: Visionen sind Motor und nicht automatisch der viel zitierte Fall für den Arzt, das stimmt; aber die EU hat den Doktor zur Zeit auf vielen anderen Ebenen nötig. Da werden Macron und Scholz noch viel Medizin suchen müssen – und hoffentlich auch können.
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