Anonymes und Anklagen

Austrian court hears ex-Chancellor Kurz's appeal against perjury conviction
Natürlich kann man sich an Dauer und Dimension des Kurz-Prozesses abarbeiten. Viel wichtiger sind freilich ganz andere Erkenntnisse.
Christian Böhmer

Christian Böhmer

Vier Jahre Verfahrensdauer, Tausende Seiten an Ermittlungsakten, 30 Zeugen: Man kann sich trefflich über Dauer und Dimension des Verfahrens gegen Sebastian Kurz echauffieren – umso mehr, als der Ex-Kanzler am Ende freigesprochen wurde. Von einer Ohrfeige für die Ankläger war mancherorts zu lesen. Aber das ist nicht nur in der Sache falsch (beim Kurz-Vertrautem Bonelli blieb es ja beim Schuldspruch). Der Anwurf ignoriert vor allem eine im Grunde erfreuliche Tatsache, nämlich: dass es heute genau keine Frage ist, ob die Justiz gegen namhafte Politiker ermittelt, Strafverfahren führt oder Prozesse abhält. Derlei passiert ganz selbstverständlich. Und weil Anklagen halt noch kein Urteil darstellen und weil in Österreich – im Unterschied zu Moskau oder Pjöngjang – Gott sei Dank keine Scheinprozesse abgehalten werden, kann man den ersten Kurz-Prozess auch zum Anlass nehmen zu befunden: Der Rechtsstaat funktioniert sehr ordentlich – und das für alle Bürger gleich.

Vielleicht ist das Grundvertrauen in die Justiz mit ein Grund dafür, warum viele Zeitgenossen auffallend flott mit dem Klagen sind. In Schulen und am Arbeitsplatz, überhaupt im Alltag, ist es bequeme Praxis geworden, Meinungsverschiedenheiten auszulagern. Wozu groß reden oder Konflikte selbst lösen, wenn man Anwälte und Richter bemühen kann? Woher diese seltsame Entwicklung kommt, das müssen Sozialwissenschafter klären.

Tatsache ist, dass synchron dazu in der Politik eine grässliche Unart Platz gegriffen hat: die Anzeige als Stilmittel, als politisches Werkzeug.

„Es geht (in der Politik; Anm.) nicht mehr um den Wettbewerb der besten Ideen, sondern um den nächsten Skandal und die nächste Anzeige“, sagte Sebastian Kurz am Dienstag. Der Ex-Kanzler hat damit nicht ganz unrecht.

In der an schnellen Nachrichten laborierenden Online-Demokratie ist mitunter alles gleich: die anonyme Anzeige wird allzu oft und absurderweise mit derselben Ernsthaftigkeit gehandelt wie eine fertige Anklageschrift oder ein rechtskräftiges Urteil, über dem Richter Wochen, wenn nicht Monate gebrütet haben.

Das ist ein unschöner, ein diskursschädlicher Trend. Um ihn zu brechen, bleiben verschiedene Möglichkeiten.

Die eine ist der Appell ans Publikum: Wenn anonyme Anzeigen für Verbreiter per se schon eine Geschichte sind, wenn sie nicht von Profis eingeordnet, geprüft und gewogen werden, dann ist zumindest Vorsicht geboten.

Der andere Weg ist der Appell an die Akteure selbst: Das nachgerade schwachsinnige „Ich zeig dich an“-Spiel hat in der politischen Arena nichts verloren, es sollte tunlichst unterlassen werden. Denn am Ende beschädigt es alle Beteiligten – und produziert solcherart nur Verlierer.

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