Die Neuvermessung der Welt

Chinas Vizepräsident Han Zheng vor der UNO-Vollversammlung
Ukraine-Krieg, China-Dominanz, Europa unter Druck - geopolitische Gewissheiten bröckeln, aber die Welt geht deswegen nicht unter
Andreas Schwarz

Andreas Schwarz

Die Generalversammlung der Vereinten Nationen – nicht wegdämmern, es wird schon noch – offenbart diese Woche zwei Dinge: Die UNO steht für eine Weltordnung aus den 1950er-Jahren und wird immer irrelevanter. Und der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij interessiert auch nicht mehr wie früher: Bei seiner Rede blieben viele Sessel leer – man hat sich an den Krieg in seinem Land gewöhnt.

Die Welt dreht sich weiter. Selbst die „Zeitenwende“, nach dem Überfall auf die Ukraine ausgerufen, scheint überholt. Der Begriff stand für die Sorge, dass ein Kriegsverbrecher Europas Nachkriegsordnung qua Faustrecht revidiert, die Errungenschaften von Aufklärung und Frieden kübelt. Aber was seither passiert, ist viel mehr: eine Neuvermessung der Welt.

Nichts vom globalen Bild, mit dem wir ins dritte Jahrtausend gestartet sind, hat Bestand. Das Weltsystem verschiebt sich, und der Ukraine-Krieg, den Putin für sein politisches Überleben am Leben hält, ist nur ein kleiner Teil der Geschichte:

Die USA, bisher Garant westlicher Werte (mit geopolitischen Sünden), ist unsicherer Kantonist geworden, Trump-Land mit einer senilen Biden-Unterbrechung sozusagen.

China strebt nach der Weltdominanz, nicht aus hegemonialem Selbstzweck, sondern für die eigene Rechnung: Wir sind das Reich der Mitte, dem ordnen wir die Ränder unter.

Indien hat seine eigene Dominanzrechnung und bildet mit Moskau, Peking und acht weiteren Staaten den Brics-Block, der als Gegenpol zum besserwisserischen Westen die G7-Staaten schon an Wirtschaftskraft überholt hat. Von der Sprengkraft Afrikas reden wir noch gar nicht.

Und die EU? Droht unterm Radau ihrer Populisten zu zerfallen und unter der Migration ins Schlaraffeneuropa zu ersticken – nicht so schnell, gewiss, der Wohlstand und die Resilienz sind schon noch hoch. Aber die proaktive Kraft zum Leben und Überleben im Weltenumbruch ist schwach.

So schwarz-weiß ist es natürlich nicht. Den Brics-Block von Argentinien bis Saudi-Arabien eint kein Wertesystem; China laviert zwischen Russenfreundschaft und dem Westen, den es braucht, weil es ihm wirtschaftlich grad nicht gut geht; das System Putin hat ein Ablaufdatum (hoffentlich); das System Trump hoffentlich auch (oder gleich kein neues Anfangsdatum).

Und Europa? Muss sich seiner Tugenden besinnen, eine Wirtschaftsmacht sein zu wollen. Muss den Populisten den Boden abgraben, indem es das Richtige tut, gerade in Sachen Stopp der ungebremsten Zuwanderung (nur weil Falsche das Richtige sagen, ist das Richtige nicht falsch!). Muss beim De-Risking (Beendigung der Abhängigkeiten) bedenken, dass es immer andere Abhängigkeiten geben wird. Muss zu einer politischen Stimme finden. Muss aktiv werden und bei der Neuvermessung der Welt dabei sein anstatt zuzuschauen. Schnell.

Porträt eines Mannes mit Brille und blauem Sakko vor dem Schriftzug „Kurier Kommentar“.

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