Über den Mythos vom "starken Mann"
Da wird eher die Stimme der Ruhe, der Vernunft und des Ausgleichs nötig sein.
über den Mythos vom "starken Mann"
Und plötzlich war die Berliner Mauer offen, der Stacheldraht keine Gefahr mehr, die Selbstschussanlagen mitten in Europa abgebaut. Das war der wunderbare Herbst 1989. Wer damals dabei war, kann sich noch an das Gefühl der Erleichterung erinnern. Und vielleicht an die Hoffnung, dass in Europa der ewige Friede einzieht. Aber was mussten wir in den über 25 Jahren seither nicht alles erleben: Die Jugoslawien-Kriege zeigten, dass individuelle Freiheit noch keine Versöhnung bringt. Der Dotcom-Krise um die Jahrtausendwende folgte im Herbst 2008 beinahe die Kernschmelze unseres Wirtschaftssystems, die nur mit teuren Folgen zu verhindern war. Und die Digitalisierung machte uns Spaß, solange wir im Westen mit Internet und Smartphones neue Lebenswelten entdeckten, aber jetzt merken wir, dass die damit verbundene Industrie 4.0 Arbeitsplätze vernichtet. Und anderswo gibt es auch Internet, wo man erfährt, dass das Leben in Europa viel besser und der Weg hierher gar nicht so weit ist.
Unsicherheit überall – kein Wunder, dass die aktuelle Umfrage von OGM dies deutlich widerspiegelt. Eines dürfen wir jetzt nicht: Darauf hoffen, dass ein "starker Mann" schnell wieder Ordnung herstellen könnte.
Zunächst einmal waren es zuletzt eher Frauen, die durch Stärke und Konsequenz aufgefallen sind, im demokratischen Rahmen Maggie Thatcher oder Angela Merkel, oder im Kampf gegen die Diktatur in Myanmar die Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi. Aber der Urzeitmensch in uns glaubt vielleicht noch an den Mann, der draußen die wilden Tiere jagt. Jedenfalls gehen die meisten Kandidaten der US-Republikaner von diesem Bild aus, wie zuletzt in einer TV-Konfrontation zu beobachten war. Da überboten einander viele Männer rund um den sonderbaren Herrn Trump darin, ein von Waffen strotzendes Amerika zu fordern, das mit allen Bösen auf der Welt ganz schnell aufräumen werde.
Putin-Typen und Polterer sind oft peinlich
Das klingt auch deshalb bedrohlich, weil im Moskauer Kreml ein Mann sitzt, der seine angebliche Stärke gerne mit nacktem Oberkörper und militärischen Aktionen unter Beweis stellt. Nun ist nichts dagegen einzuwenden, dass über 60 Jahre alte Männer sich fit halten für die Herausforderungen des Lebens, aber Putins gestellte Paparazzi-Fotos, die körperliches Heldentum beweisen sollen, sind nicht nur peinlich, sondern zeugen auch von bescheidenem Selbstbewusstsein. In diesem sehr schwierigen Jahr 2016 werden wir Frauen und Männer brauchen, die gemeinsam den Krieg in Syrien beenden, Terrorismus bekämpfen und Mechanismen zur frühzeitigen Befriedung der vielen Krisenherde erarbeiten, anstatt ihr Ego spazieren zu führen.
Das führt zum kommenden Wahlkampf um das Amt des Bundespräsidenten. Heinz Fischer war oft zu vorsichtig und abwägend, aber das hat ihm auch hohe Popularität gebracht. Es mag ja sein, dass sich angesichts der schwierigen Wirtschaftslage und der Kriege im Nahen Osten, die weitere Flüchtlingsströme produzieren werden, auch bei uns mehr Menschen einen "starken Mann" wünschen. Doch sicher nicht in der Hofburg. Die innenpolitischen Meister des täglichen Kleinkriegs werden auch 2016 aktiv sein. Da wird eher die Stimme der Ruhe, der Vernunft und des Ausgleichs nötig sein.
Kommentare