Wenn der Nachwuchs eigenständig wird

Sogar die Tierwelt lehrt uns, dass der Nachwuchs irgendwann flügge werden muss.
Vea Kaiser

Vea Kaiser

Mein Bruderherz ist ein höchst origineller Mensch. Wir kennen ihn, wissen aber nie, was er als Nächstes vorhat. Das war schon so, noch ehe er vollständige Sätze artikulieren konnte. Weswegen mein Vater einmal, als er mit uns Kindern das Einkaufszentrum durchqueren musste, kurzerhand ein Seil an der Gürtelschlaufe meines Bruders befestigte. Ich als ältere Schwester fand diese Lösung genial. Meine Mutter hingegen war überhaupt nicht erfreut, als die Nachbarin, vor deren Augen man nicht einmal im Einkaufszentrum sicher war, petzte. Wer glaubt, Bruderherz an der Hand zu halten hätte es auch getan, dem sei versichert: Mein Bruderherz war der Houdini der Bärchen-Gruppe. Zwanzig Jahre später will meine Mutter nun das Seil wieder auspacken und das Bruderherz zuhause fesseln, denn vor drei Tagen eröffnete er uns, dass er am Montag nach Vietnam gehe, weil er dort ein spannendes Job-Angebot bekommen habe. Seither bombardiert ihn unsere Mutter mit den Unfall-Statistiken von Ho-Chi-Minh-City und mich mit Klagen darüber, dass 9.139 Kilometer Luftlinie nicht zwischen einer Mami und ihrem Jüngsten stehen dürften. Abstrakt kann ich sie verstehen, immerhin ist es menschlich, dass man die Liebsten so nah wie möglich bei sich haben will. Andererseits lehrt uns die Tierwelt, dass der Nachwuchs irgendwann flügge werden muss. Und wessen Familie groß genug ist, dass sie quasi ganz Niederösterreich umfasst, der muss wahrscheinlich bis nach Vietnam, um den gewürzreichen Geschmack der Eigenständigkeit zu kosten. (Apropos bei uns im Naturschutzpark NÖ wurde das Flügge-Werden bisher nur bei der Spezies Homo privatus beobachtet. Der Homo politicus pflegt durch seine ausgeprägten Rudelstrukturen unter der Führung eines unumstrittenen Alpha-Männchen auf eine Abnabelung des Nachwuchses zu verzichten.)vea.kaiser@kurier.at

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