Stöger: Die Abenteuer im Kopf
Große Turniere werden nicht durch große Unterschiede in der Qualität oder der Spielauffassung entschieden. Details und Entwicklungen, die vor dem ersten Spiel nicht zu erwarten waren, ebnen den Weg für Sieger und Verlierer. Eine bedeutende und oft noch unterschätzte Rolle spielt die Psyche der Spieler. Das war auch Sonntagabend in der stark besetzten Gruppe B zu sehen. Cristiano Ronaldo hat bewiesen, dass er nicht nur bei Real Madrid zur Weltklasse zählt. Nach der herben Kritik an ihm zeigte der Kapitän im Entscheidungsspiel gegen die Niederlande auf den Punkt genau sein überragendes Können. Das ist nur mit großer mentaler Stärke möglich. Während die Deutschen mit einer gefestigten Mannschaft alle heiklen Phasen gemeistert haben, sind die Holländer ohne Punkt rausgeflogen. Es ist klar, dass die hohe spielerische Qualität mit diesem peinlichen Ende nicht zusammen passt. In diesem Team hat es auch im Kopf nicht gepasst. Vom Schock der ersten Niederlage konnte sich der Vizeweltmeister nie erholen. In der Gruppe A habe ich vor der EURO auf Russland und Polen getippt. Nach dem ersten Spieltag fühlte ich mich bestätigt, und am Ende scheiterten doch die Favoriten, was mir bei den Polen besonders leidtut. Diese junge Mannschaft hat Potenzial und Zukunft. Die Gründe für die Wende sehe ich in der Psyche. Die Polen wurden gegen Tschechien mit der immensen Erwartungshaltung nicht fertig. Sie wirkten durch die Chance auf einen historischen Erfolg blockiert. Mit jeder Spielminute war für mich spürbarer, dass das nichts wird. Das Gegenteil lieferten die Griechen ab. Gegen Polen und gegen Tschechien gab es nach schlechten Starts ein kollektives Aufbäumen. Und gegen Russland zeigte dieses Team, dass es offensichtlich mit Stresssituationen sehr gut umgehen kann. Sie haben keine überragenden Einzelkönner, aber eine gefestigte Mannschaft, die auch mit dem für viele ungewohnten Rhythmus (alle vier Tage ein Entscheidungsspiel) gut zurecht kommt. Vielleicht klingt es populistisch: Ich bin überzeugt, dass auch die Lage in Griechenland in diesem Team etwas bewirkt hat. Ihr Nationalstolz wurde geweckt. Niemand schert sich um dieses Land? Sie wollten beweisen, dass das nicht stimmt. Für den weiteren Turnierverlauf erwarte ich, dass die psychische Verfassung der Mannschaften sogar wichtiger werden kann als Spielstärke und Taktik. Ich glaube, dass mit der Sportpsychologie im österreichischen Fußball noch ein großes, fast unbearbeitetes Feld vor uns liegt. Ich arbeite selbst mit einem Sportpsychologen zusammen und werde diesen Zugang auch meinen Spielern bei der Austria anbieten. Es muss nicht immer eine Gruppendynamik entstehen, aber wenn jeder Spieler für sich aus diesen Möglichkeiten einen Nutzen von etwa 10 Prozent zieht, wird in der Mannschaftsstärke eine andere Ebene erreicht. Die Abenteuer im Kopf werden im Fußball noch viel bewirken.
-
Spielbericht
-
Kommentar
-
Ergebnisse
-
Kommentar
-
Ergebnisse
-
Reaktion
Kommentare