Was bleibt von der freien Rede?

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Die freie Meinungsäußerung an sich steht weltweit unter Druck. Ein Gastkommentar zum Tag der Menschenrechte (10. Oktober) von Paul Sailer-Wlasits.

Nicht nur, weil führende Politiker zahlreicher Staaten kritische Medien bedrohten und bedrohen – die freie Meinungsäußerung an sich steht unter Druck. In Bedrängnis, wie schon lange nicht. In autoritären Regimen am Rande Europas und in Diktaturen weltweit ist und bleibt die Meinungsäußerungsfreiheit mit teils schweren, teils lebensbedrohlichen Repressalien verbunden. Falls kritische politische Positionen auch in demokratischen Staaten präventiv mit Risiko synonymisiert und das Ahnden von „Meinungsdelikten“ zur politischen Realität werden, wäre das nicht nur ein Rückschritt, sondern der Anfang vom Ende liberaler Diskussionskultur.

Miteinander sprechen ist nicht immer ein Dialog. Dennoch sind Gespräche zunächst stets Begegnungen. Ob aus diesen gegenseitiges Verstehen oder gar Verständnis resultiert, steht auf einem anderen Blatt. Zwischen Mitgeteiltem und Verschwiegenem, zwischen Explizitem und Angedeutetem entfaltet sich der Dialograum teils mitreißender, hitziger Diskussionen. Es ist kein Zufall, dass das Dialogisieren seit der griechischen Antike, während welcher erste Ansätze demokratischer Lebenspraxis entstanden, allerhöchstes Ansehen genoss. Als Begegnung auf Augenhöhe, als Unterredung partiell gleichberechtigter Individuen.

Ein Mann im Anzug denkt nach, die Hand ans Kinn gelegt, vor einem Baum.

Paul Sailer-Wlasits.

Wahrsprechen

Bereits damals waren mehrere Formen des Dialogs bekannt: Etwa die sogenannte Isegorie als freies Sprechen unter Gleichberechtigten, als Möglichkeit zu freier Rede überhaupt. Oder die Parrhesie, das Wahrsprechen, das auf einen offenen, zwanglos-unumwundenen Diskurs ausgerichtet war. Wahrsprechen – nicht mit ungezügelter Redefreiheit gleichzusetzen – lässt ein dialogisches Vertrauensverhältnis zwischen Sprechenden und Hörenden entstehen. Als eine von Rhetorik befreite, unversehrte und vollständige Redeweise bildet es die sprachliche Grundlage für ein gesellschaftliches Klima des Vertrauens, widerständig gegen autoritäre Tendenzen. Doch wer bestimmt in der heutigen Politpraxis tatsächlich den Diskurs? Hat, wer monologisiert, automatisch die Themenführerschaft? Es gibt politische Gesprächsteilnehmer, die weder zur Selbstkritik noch zur Selbstironie fähig sind, sondern sich im Vollbesitz der Wahrheit wähnen. Wie Apologeten ohne Einsicht schrammen diese, von Eigeninteresse getrieben, mit autoritärer, zuweilen demagogischer Sprache am Fanatismus entlang.

Falls das freie Wort einem machtbesessenen Gegenüber nicht behagt, wird dieses bestritten und bekämpft. Anstelle von Diskussionen entstehen häufig Lügengebilde samt Drohkulissen zwecks Einschüchterung kritischer Stimmen. Autoritäre Machthaber synonymisieren Kritik oftmals mit Terrorismus und konstruieren perfide Argumente zwecks eigenen Machterhalts.

Eigentliche Cancel-Culture

Mit Schutzmaßnahmen gegen angebliche Staatsgefährdung verfolgten totalitäre Systeme der Vergangenheit das Ziel, Zensur und Gewalt zu legitimieren. Autokratien und Überwachungsstaaten der Gegenwart tun Gleiches, um der Freiheit des nicht genehmen Wortes ein Ende zu setzen. Einem defekten Polit-Kompass gleich ist dies die eigentliche globale Cancel-Culture.

Freiheit gründet auf dem Gedanken des Überwindens von Barrieren und des Einreißens von Grenzen. Riesige Kräfte wurden „frei-gesetzt“, um über Jahrhunderte gewachsene monarchische, koloniale und totalitäre Strukturen hinwegzufegen. Die Redefreiheit stand in diesem Kampf immer an vorderster Front. Die „Rückseite“ des offenen, freien und unumwundenen Wortes ist ethisch fundiert. Die Freiheit der Rede hat stets jene Grenzen zu berücksichtigen, die aus dem Respekt vor dem Gegenüber und der Anerkennung des anderen erwachsen. Moralische und humanistische Grenzlinien sind sprachlich keinesfalls zu übertreten. Doch moralische Grenzverläufe sind weder konstant noch statisch. Sie verschieben sich u.a. durch kulturelle, ethnische und religiöse Parameter, die unterschiedliche Normen und gesellschaftliche Grundsätze zur Folge haben.

Die freie Rede und die Würde des anderen werden auch zukünftig niemals völlig zur Deckung gebracht werden, man kann sie einander nur behutsam annähern. In Zeiten zunehmender Erosion von Bedeutung wird das Wahrsprechen, als unveräußerliches Dokument freien Sprachhandelns, gesellschaftlich überlebenswichtig.

Zum Autor:
Paul Sailer-Wlasits ist Sprachphilosoph und Politikwissenschafter in Wien. Kürzlich erschien sein neues Buch „Demagogie. Sozialphilosophie des sprachlich Radikalbösen“.

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