Der politische Tauschwert der Wahrheit

Donald Trumps Online-Netzwerk Truth Social an der New Yorker Börse (Foto vom März 2024).
Bei nahezu allen Produkten, die auf Märkten gehandelt werden, bestimmen Angebot und Nachfrage den Preis der Güter. Von den Finanz- und Immobilienmärkten bis hin zum Arbeitsmarkt: auf allen diesen Plätzen des Austausches werden Finanzinstrumente, Immobilienprodukte oder schlicht die menschliche Arbeitskraft ge- und verkauft.
Ähnliche Mechanismen existieren auch auf dem „politischen Sprachmarkt“. Doch auf diesem speziellen Markt wird nicht nur neutraler sprachlicher Austausch betrieben. Der sprachliche Handel besitzt Warencharakter; mittels politischer Sprache werden zwischen den Marktteilnehmern inhaltliche und emotionale Tauschgeschäfte gemacht. Mehr noch: es werden „Wahrheitswerte“ gehandelt, getauscht und substituiert.
Wahrheitswerte sind wichtige Stabilisatoren des Diskurses. Sie sorgen für Verlässlichkeit hinsichtlich des Gesagten und bilden die Basis für gegenseitiges Vertrauen. Durch gefestigte Wahrheitswerte entsteht ein verlässlicher „sprachlicher Markt- und Handelsplatz“, auf dem gesellschaftliches Miteinander vertrauensvoll gedeihen kann.

Paul Sailer-Wlasits
Ausverkauf der Wahrheit
Doch was, wenn Wahrheitswerte, verwertbaren Ressourcen gleich, aus politischen Motiven gezielt verschoben werden, umetikettiert, umcodiert oder durch Falschaussagen ersetzt? Wenn wissentlich unwahre Inhalte mittels politisch-rhetorischen Methoden als wahr verkauft werden? Auf dem Politmarkt wird Sprache nicht nur gesprochen, sie wird inszeniert. Im Extremfall werden nicht nur Wahrheitswerte rhetorisch verschoben, sondern ganze Wahrheitsblöcke brachial ausgetauscht, wie jüngst in den USA. Der Angriffs- und Schuldzuweisungsautomatismus von republikanischer Seite, anlässlich der schändlichen, verurteilenswerten Ermordung einer ihrer politischen Zukunftshoffnungen, ist ein eklatantes Beispiel für den verbalen Austausch solcher Wahrheitsblöcke.
Lang anhaltende manipulative Wahrheitsverschiebungen führen auf gewaltsame Weise zu diskursivem Substanzverlust. Gegenwärtig finden mithilfe der Verstärkung und Beschleunigung durch elektronische Kommunikation nachhaltige Destabilisierungen des globalen Sprachgefüges statt.
Der Zweck derartiger sprachlicher Operationen? Das vollständige durchdringende Erreichen des Gegenübers. Die unmittelbare Wirkung bei Hörerinnen und Hörern der Botschaft, das Beeinflussen ihres Denkens und Handelns. Das Erschreckende dabei? Die Initiatoren sprachlicher Manipulationen, politischer Sprachfälschungen und Lügengebilde agieren zumeist ohne Konsequenzen befürchten zu müssen. Verzerrungen auf dem Sprachmarkt bleiben für die handelnden Polit-Akteure so gut wie immer folgenlos.
Digitale Beschleunigung
Mithilfe der exponentiell beschleunigenden Künstlichen Intelligenz kann fortan die Unterscheidbarkeit von wahr und falsch verwischt, subtiler und raffinierte denn je verschoben und als taktische Desinformation genutzt werden. Auf der Grundlage verzerrter, manipulierter Wahrheitswerte vermag Fehlinformation instrumentalisiert zu werden, um punktgenau Emotionen zu entzünden, ökonomische Partikularinteressen durchzusetzen oder die politische Opposition zu spalten. Das ist das Einfallstor der neuen Demagogen. Zur sprachlichen Inszenierung von Politik zählt auch die unablässige Wiederholung einfachster Botschaften. Genau dieses stellte nicht nur Hitler in seiner vor nunmehr 100 Jahren veröffentlichten Propagandaschrift „Mein Kampf“ explizit fest. Den Mechanismus tausendfacher Wiederholungen simpler Slogans befolgen auch heute und künftig Wahlkampfstrategen aller Couleur. Auch „MAGA“ ist eine solche Kurzformel, in die alles und nichts hineinpasst. Das aktuelle russische Narrativ hingegen, gemäß welchem die Ukraine ein mit westlicher Unterstützung faschistisch beherrschter, nazistisch durchsetzter Staat sei, ist ein anderer autoritärer Code.
Der massenpsychologische Griff nach den Gehirnen der Menschen wird fester, der Manipulation von Wahrheit sind kaum noch Grenzen gesetzt. Individuen und Gesellschaften können gelenkt werden, bis ans Ende ihrer Selbstbestimmung. Dieser Gefahr entgegenzutreten wird zur Pflicht.
Zum Autor:
Paul Sailer-Wlasits ist Sprachphilosoph und Politikwissenschafter in Wien. Sein neues Buch „Demagogie. Sozialphilosophie des sprachlich Radikalbösen“ erscheint in Kürze.
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