Grenzen bleiben ein Problem
Nicht nur Jahresenden stellen Grenzen dar. Auch das Phänomen der Freiheit ist ursächlich auf Grenzen und deren Überwindung rückführbar. Ethik und Moral hingegen gründen auf deren Anerkennung. Das Einreißen staatlicher Grenzzäune kann dem Ausbruch dienen, wie der „Fall der Mauer“ 1989 eindrucksvoll zeigte. Das brachiale Überschreiten von Begrenzungen mündet jedoch zumeist in Gegengewalt, im Extremfall in Kriegen.
Nicht nur die rückschrittlich-kriegerische Gegenwart ist ein Beispiel dafür, auch die gewaltdurchsetzten Kolonisatoren vergangener Jahrhunderte übertraten sichtbare und unsichtbare Grenzlinien. Deren Folgewirkungen und Erschütterungen sind zum Teil noch Jahrhunderte später sichtbar: als politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Bruchlinien menschlichen Zusammenlebens. Grenzen trennen und teilen nicht nur, sie markieren auch Ränder und Enden. Von den natürlichen Scheidelinien der Küstenlandschaften bis zu künstlich gezogenen territorialen Einschreibungen von Einheiten in Räume. Trennungslinien wirken nach innen und außen, sie sind defensiv und offensiv.
Indem physische Grenzverläufe nach außen exkludieren, suggerieren sie – oftmals fälschlich –, das Ganze nach innen zusammenzuhalten und für Integrität zu sorgen. Doch vielfach bleiben Begrenzungen auch im Innen bestehen, sichtbare und unsichtbare. Wie unerbittliche gläserne Decken wirken diese Barrieren und Schranken, etwa zwischen gesellschaftlichen Gruppen. Grenzlinien zwischen Gebieten sind hingegen weder Teil des einen noch des anderen.
Die Ursprünglichkeit des Anbeginns, von dem aus ein Fortgang erfolgt, zählt zu den schwer fassbaren Grenzbereichen. Auch die Gegenwart als verbindende und gleichzeitig trennende Grenzlinie zwischen Vergangenheit und Zukunft zählt zu den schwer zu lokalisierenden Grenzverläufen. Während gesetzte und gezogene territoriale Grenzen zumeist gewaltvolle Begrenzungen repräsentieren, entstehen fließende Grenzbereiche oftmals von selbst. In der Natur ergeben sich solche häufig aus der Verringerung der Distanz verschiedener Populationen zueinander.
Dadurch entstehen Lebensräume, Gebiete mit gewachsenen, teils unscharfen, umstrittenen Grenzen. Nicht nur nationalstaatliche Grenzen wurden in diesem abgelaufenen Jahr auf schrecklichste Weise eingerissen, auch die gesellschaftlichen Limits mentaler Belastbarkeit wurden hierzulande vielerorts überschritten. Die Überbelastung mündete in weiten Teilen der Gesellschaft in Erschöpfungszuständen und in weiterer Folge im großflächigen Zusammenbruch konstruktiver Kommunikation. Damit das menschliche Leben fortan nicht in einem schmalen Grenzstreifen zwischen erratischer Aktivität und resignativem Stillstand verläuft, wäre der Stärkung von Resilienz und Zuversicht künftig vollste individuelle und auch politische Aufmerksamkeit zu widmen.
Paul Sailer-Wlasits ist Sprachphilosoph und Politikwissenschaftler
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