Gefährliche Phantomschmerzen

Eine neue Weltordnung steht an und diese entscheidet sich – zumindest aus Sicht der dramatischen aktuellen Situation – in Nahost und in der Ukraine. Geopolitische Machtspiele fragwürdiger Autokraten und Diktatoren auf Basis bewusst falscher Interpretationen und missbräuchlicher Instrumentalisierung der Geschichte lassen das erste Viertel des 21. Jahrhunderts in einen Strudel von Kriegen und aggressiven Auseinandersetzungen versinken. Es scheint, als ob die Betreiber des Unfriedens von Phantomschmerzen über abgetrennte Staatsteile getrieben sind, begründet in lang zurückliegenden historischen Entwicklungen. Das politische Handeln ist geprägt vom hass- und schmerzerfüllten Blick auf die Vergangenheit und nicht auf die Lösung der Probleme der Zukunft.
China möchte mit den USA gleichziehen und sich das verlorene Taiwan wieder einverleiben. Es hat sich zu einer Supermacht entwickelt und strebt nach einer globalen Führungsrolle zumindest auf Augenhöhe mit den USA.
Putin kann den Zusammenbruch des Sowjetreiches nicht verschmerzen und leitet seine Ansprüche auf das Kiewer Erbe aus dem 15. Jahrhundert ab. Wenn schon nicht einverleibt, so sollten Belarus, Ukraine, Georgien, Moldau als Vasallenstaaten Russlands dienen. Endgültig durchgesetzt haben dürfte sich diese krause Vorstellung in der von Angst geprägten Covid-Isolation Putins.
Der türkische Präsident träumt von der Wiederherstellung des Osmanischen Reichs, das vom 14. Jahrhundert bis 1922 Bestand hatte. An der Spitze dieses Imperiums stand der Sultan, als dessen Nachfolger sich Erdoğan irgendwie gerne sehen würde. Die einseitige Parteinahme für die Hamas und die Attacken gegen „den Westen“ untermauern dies.
Die Araber, vor allem die Palästinenser, leiden unter dem Schmerz des Verlusts jener Gebiete, die sie durch die Gründung des Staates Israel 1948 verloren haben. Seit dieser Zeit gibt es im Nahen Osten unentwegt kriegerische Auseinandersetzungen.
Auch in Europa ist der eine oder andere kleine Potentat nicht ganz vor vom Phantomschmerz getriebenen Wunschvorstellungen gefeit. Würde die österreichische Bevölkerung in ähnlicher Weise ticken, müsste sie ob des Verlustes großer Gebiete der Habsburger-Monarchie vor 105 Jahren unentwegt vor Schmerz schreien.
Wer solche verqueren, rückwärtsgerichteten Ideale als Grundlage seiner Politik sieht, ist schwer zugänglich für Argumente westlicher Demokratien. Wenn Europa zum Weltfrieden beitragen will, muss es sich bewusst werden, dass unsere westlichen, europäischen Werte nicht überall auf der Welt akzeptiert und mitgetragen werden. Leider hat Europa, das lange Zeit ein zentraler Akteur in der globalen Politik war, wohl auch aus eigenem Verschulden schon lange seine Bedeutung eingebüßt.
Franz Schausberger ist Univ. Prof. für Neuere Geschichte, Landeshauptmann von Salzburg a.D., Vorsitzender des Instituts der Regionen Europas.(IRE)
Kommentare