Für eine neue Energieunion Europas

Die EU befindet sich in Bezug auf Wettbewerbsfähigkeit, Dekarbonisierung und Sicherheit an einem entscheidenden Wendepunkt, und es besteht eindeutig Handlungsbedarf.
Hohe Energierechnungen schaden uns zu Hause und unseren Unternehmen. In Mario Draghis Bericht über die europäische Wettbewerbsfähigkeit aus dem Jahr 2024 fiel das Wort „Energie“ mehr als 700-mal. Wenn wir Europa stärken wollen, müssen wir im Energiebereich enger zusammenarbeiten, um so die Grundlage für Arbeitsplätze, Wachstum und Wohlstand zu schaffen.

Sicherheit erschüttert
Und ein stärkeres Europa brauchen wir dringender denn je. An unseren Grenzen erschüttert die Brutalität Russlands die europäische Sicherheit in ihren Grundfesten. Seit dem Beginn von Putins Invasion hat Europa für fossile Brennstoffe aus Russland den Gegenwert der Kosten von 2400 F-35-Kampfflugzeugen ausgegeben. Dies muss sich ändern.
Wenn wir unseren Kontinent schützen wollen, müssen wir auch unseren Planeten schützen. Auf den Energiesektor entfallen 75 % der Treibhausgasemissionen in Europa. Je länger wir für die Dekarbonisierung brauchen, desto länger werden wir mit schwankenden Preisen für fossile Brennstoffe und klimawandelbedingten Krisen leben müssen.
Wir stehen vor beträchtlichen Herausforderungen. Doch ebenso beträchtlich sind die Fähigkeiten der Europäischen Union, diese zu bewältigen. Am 26. Februar habe ich einen EU-Aktionsplan vorgelegt, der dazu beitragen soll, den wahren Wert unserer Energieunion zu erschließen.
Grüner Wandel
Wir werden den grünen Wandel nicht zurückdrehen, sondern beschleunigen. Derzeit dauert es überall in Europa Jahre, bis Windkraftanlagen und Solarparks gebaut werden können. Hunderte Gigawatt grüner und erschwinglicher Energie warten nur darauf, erschlossen zu werden. Doch wir können nicht mehr länger warten. Daher werden wir die Genehmigungsfristen verkürzen, die die Entwicklung von Projekten im Bereich der erneuerbaren Energien bremsen; den Europäerinnen und Europäern wird so schneller erschwingliche grüne Energie zur Verfügung stehen. Wir werden auch den Abschluss von längerfristigen Verträgen für erneuerbare Energie erleichtern, um sicherzustellen, dass Käufer von sauberem Strom vor kurzfristigen Schwankungen auf den Energiemärkten geschützt werden.
Ein weiterer Schwerpunktbereich wird die Stärkung und Straffung unserer Energieunion sein. Wir nutzen derzeit nur die Hälfte des Potenzials unserer Netze – ganz so, als ob es in Europa 100 Autobahnen gäbe, von denen aber nur 50 befahren werden, während wir künftig 200 benötigen. Die Kommission wird daher bei der Governance der Energiemärkte, der Planung des Netzausbaus und der Krisenvorsorge für eine engere Koordinierung zwischen den Mitgliedstaaten sorgen.
Darüber hinaus werden wir gemeinsame und strategische europäische Investitionen in die Förderung von Effizienz, Elektrifizierung und Modernisierung lenken. Um Investitionen weiterhin zu unterstützen, werden wir mit einem Vertrag über erschwingliche Energie den öffentlichen Sektor, Entwickler und Erzeuger sauberer Energie sowie die energieintensive Industrie zusammenbringen. Damit können wir in anderen Größenordnungen denken und Berechenbarkeit gewährleisten.
Gerechtere Gasmärkte
Schließlich wird mit der Dekarbonisierung unserer Wirtschaft die Nachfrage nach Gas zwar zurückgehen, doch wird Gas noch einige Zeit lang einen erheblichen Teil unseres Energiemixes ausmachen. Unser Aktionsplan zielt daher darauf ab, für gerechtere Gasmärkte zu sorgen, indem die Regulierungsaufsicht verbessert wird und die Behörden mit starken rechtlichen Befugnissen zur Sanktionierung von Marktmissbrauch ausgestattet werden. Wir streben auch mehr Wettbewerb auf den Gasmärkten an, beispielsweise indem wir die Marktmacht der EU nutzen, um bessere Angebote für Importe von zuverlässigen LNG-Lieferanten zu erhalten.
Was bedeutet dies für die Haushalte und Unternehmen in Europa? Alles zusammengenommen haben wir das Potenzial, im Jahr 2025 Einsparungen in Höhe von 45 Milliarden Euro zu erzielen, die bis 2030 auf mindestens 130 Milliarden Euro und ab 2040 auf 260 Milliarden Euro jährliche Einsparungen anwachsen können. Bei Importen fossiler Brennstoffe können wir bis 2040 insgesamt bis zu 2,5 Billionen Euro sparen.
Diese Einsparungen sind erreichbar – wir dürfen sie uns nicht entgehen lassen. Dafür müssen wir alle zusammenarbeiten: die EU, die Mitgliedstaaten, die Privatwirtschaft und die Bürgerinnen und Bürger. Wenn wir unsere Anstrengungen bündeln, können wir das volle Potenzial ausschöpfen und das ursprüngliche Versprechen Europas, in Vielfalt und Richtung geeint, erfüllen.
Versprechen der EU
Von diesem Versprechen sprach vor fast 70 Jahren bereits der erste Präsident der Europäischen Kommission, Professor Walter Hallstein, als er die Aussichten für die europäische Einheit in einer Welt gewaltiger Herausforderungen darlegte: „Was wir von allen Seiten brauchen, wenn der große Wurf gelingen soll, ist nicht nur Verstand, Phantasie und Entschlusskraft, es ist vor allem Selbstvertrauen und ein zäher, unbeugsamer Lebenswille.“
Beherzigen wir seine Worte und haben wir Vertrauen in uns selbst. Geeint haben wir nicht nur überlebt – wir konnten uns entfalten.
Als Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl haben wir begonnen, eine europäische Gemeinschaft der Windkraftanlagen, Solarpaneele und Geothermiegeneratoren sind wir heute. Einst trennten uns Schützengräben und der Eiserne Vorhang, nun verbinden uns Stromleitungen, Kabel und Verbundnetze.
Es ist an der Zeit, das zu vollenden, was wir vor 70 Jahren begonnen haben, auf unsere Stärken zu bauen und den wahren Wert unserer Energieunion zu erschließen. Wir können es uns nicht leisten, auch nur einen Moment länger zu warten.
Dan Jørgensen ist EU-Kommissar für Energie und Wohnungswesen. Dieser Gastkommentar erscheint in ausgewählten Tageszeitungen Europas
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