Falsches Schreckgespenst
Die rasant steigenden Preise sorgen dafür, dass den ArbeitnehmerInnen immer weniger zum Leben bleibt. Aufgabe der Gewerkschaften ist es, nicht nur einen Reallohnverlust zu verhindern, sondern den ArbeitnehmerInnen einen fairen Anteil an der Produktivität, die in Österreich seit Jahren nicht zuletzt durch deren Einsatz steigt, zu sichern. Kaum liegen die ersten Lohn- und Gehaltsforderungen auf dem Tisch, werden die Unkenrufe nach der Lohn-Preis-Spirale laut. Dabei ist die Annahme, dass Löhne und Gehälter der Grund für steigende Preise wären, indem sie die Kosten für Unternehmen erhöhten, falsch.
Es wird zwar regelmäßig behauptet, dass steigende Löhne für die Inflation verantwortlich wären. Dabei ist es umgekehrt: Die Löhne steigen, weil das Preisniveau ansteigt, damit die Kaufkraft erhalten bleibt. Für die Lohnverhandlungen ziehen die Gewerkschaften die sogenannte Benya-Formel heran: Die Lohnforderungen orientierten sich an der durchschnittlichen Inflationsrate der letzten zwölf Monate plus der Produktivitätszuwächse der Branchen.
Die Löhne folgen den Preisen, nicht umgekehrt. Ohne eine regelmäßige Erhöhung der Löhne ginge die Kaufkraft verloren. Das würde auch der Wirtschaft enorm schaden. Die Konsumausgaben der privaten Haushalte sind nämlich mit einem Anteil von etwa 50 Prozent am Bruttoinlandsprodukt die wichtigste Komponente der Inlandsnachfrage.
Stabilisierender Faktor
Bei den aktuell hohen Inflationsraten sind nachhaltige Lohnerhöhungen daher umso wichtiger, um die Inlandsnachfrage und damit auch die Konjunktur zu stabilisieren. Die Vorteile dieser Vorgehensweise haben sich auch in der Finanzkrise bewährt. Während in einigen europäischen Ländern Kollektivvertragsverhandlungen ausgehebelt und Mindestlöhne teilweise sogar gesenkt wurden, gab es in Österreich Reallohnsteigerungen. Dadurch konnte die Inlandsnachfrage stabilisiert und damit auch die Krise besser als in anderen EU-Staaten durchgestanden werden. Auch 2019, als WirtschaftsforscherInnen bereits eine Abkühlung der internationalen Konjunktur prognostizierten, war es unter anderem ein robuster privater Konsum, der die österreichische Wirtschaftsleistung stützte.
Was hingegen immer häufiger beobachtet werden kann, ist eine Gewinn-Preis-Spirale. Unternehmen erhöhen die Preise über die gestiegenen Kosten hinaus und können damit – zulasten der KonsumentInnen – ihre Gewinne erhöhen. Besonders auffällig ist dies im Energiebereich, aber auch bei Mietpreisen. Wenn es um eine Senkung der Preise in diesen Bereichen geht, oder darum, sich an den Krisenkosten zu beteiligen, schwindet die Solidaritätsbereitschaft. Stattdessen wird Lohnzurückhaltung und damit von den ArbeitnehmerInnen erwartet, die Krise doppelt zu zahlen.
Miriam Baghdady ist Wirtschaftsexpertin des ÖGB.
Kommentare