Dem toten Freund

Gemeinsam durch die Jahrzehnte: Heinz Nußbaumer mit Hugo Portisch, der am 1. April 2021 verstarb.
Zum Tag der Pressefreiheit. Ein Auszug aus der Trauerrede für Hugo Portisch von seinem langjährigen Wegbegleiter Heinz Nußbaumer.

Lieber Hugo!

Das Schicksal hat mir viele Jahre geschenkt, um über Dich nachzudenken: Welcher Glücksfall Du warst – für unser Land und seinen Weg. Für unsere Profession als Journalisten. Und auch für uns, Deine Freunde. Aber erst jetzt, da wir von Dir Abschied nehmen müssen, ist mir aufgefallen, wie selten wir beide über Leben und Sterben geredet haben. Nur an zwei Momente erinnere ich mich: Das war unmittelbar nach dem Tod Deiner geliebten Traudi, die Du bis zuletzt im Krankenhaus betreut hast. Wenig später sind wir beide auf Eurem Balkon gestanden und Du hast leise gesagt: „Am liebsten würde ich da hinunterspringen“.

Dass Du es nicht tun würdest – auch weil es für so viele Menschen eine enorme Enttäuschung gewesen wäre –, darauf habe ich gehofft. Und so war es auch. Monate später hast Du wieder ein wichtiges, mutiges Buch geschrieben.

Noch ein zweites Mal war der Tod unser Thema. Als Du gefragt worden bist, was einmal auf Deinem Grabstein stehen sollte, da hast Du gesagt: „Vergesst mich“. Es hat mich erschreckt, weil Du ja für Koketterie nichts übriggehabt hast. Also wollte ich wissen: Warum dieses „Vergesst mich“? Deine Antwort war: „Die Welt und unser Beruf – alles hat sich verändert“. Und: „Unsere Kollegen von heute, die müssen sich gegen so viele neue Verlockungen und Zumutungen bewähren. Ratschläge von uns – das wäre heute, als würden zwei alte Indianerhäuptlinge am Lagerfeuer sitzen und den Jungen von ihren Heldentaten erzählen…“

Lieber Hugo, Du weißt, wie sehr Du mir ein halbes Jahrhundert und mehr ein Orientierungspunkt und Leitstern warst. Und die so berührenden Reaktionen auf Dein Fortgehen zeigen, dass ich nur einer von Vielen bin. Und doch möchte ich Dir eine andere Botschaft mitgeben: Dass Du ein „Wegweiser“ warst - und bleibst! Einer, der Spuren hinterlassen hat, die kein Wind der Zeit verwehen kann.

Viel ist zuletzt über Dein Leben und Dein Vermächtnis geschrieben worden. Nichts davon möchte ich wiederholen, sondern mich auf das beschränken, was von Dir bleiben muss. Zuallererst: Kein anderer Österreicher ist mir begegnet, für den Heimatliebe, Europa-Bewusstsein und Weltbürgertum so untrennbar zusammengehört haben, wie für Dich. Denn, so hast Du gesagt, „je kleiner ein Land, desto größer muss es denken. Muss es die Augen und Ohren offenhalten und sich immer wieder aktiv ins Spiel bringen – geistig, wirtschaftlich, kulturell. Muss sich unersetzlich machen – auch der eigenen Sicherheit zuliebe“.

Hinter dieser Überzeugung hast Du ein ganzes Bündel an Chancen erkannt – unersetzlich für ein Land, das immer gefährdet ist, die Sonne allzu schnell hinter den Schrebergärten der Selbstzufriedenheit untergehen zu lassen. Weltoffenheit – das war für Dich auch ein Haltegriff, um manche innenpolitische Aufgeregtheit angesichts der wahren Probleme dieser Welt als tragikomische Belanglosigkeit zu erkennen. Und Europa – für Dich war es die größere Heimat – und unser Österreich das Kernland dieser Überlebensgemeinschaft. Deshalb hast Du so oft diesen Kontinent durchquert und diesen Globus umrundet; hast Millionen Landsleuten davon berichtet und ihnen bewiesen, dass neues Wissen nicht langweilig sein muss, sondern fesselnd sein kann.

Mehr noch: Wo immer Du Defizite entdeckt hast, warst Du voll von politischen Ideen: vom Marschallplan für Afrika über eine neue Nachbarschaft mit Russland bis zu drängenden Vorschlägen, um der europäischen Idee mehr Kraft einzuhauchen. Also frage ich mich: Wer wird das künftig an Deiner Stelle tun und Dein kosmopolitischer Erbe sein?

Lieber Hugo, wer Deinen Kommentaren, Büchern und Fernsehserien gefolgt ist, der kennt die ethischen Fundamente Deiner Arbeit. Ganz wichtig war Dir die Fairness – ein Anspruch, der auf zwei Säulen ruhte: Deinem Mut – und Deiner Demut. Der Mut zur Wahrheit und zu Deinen Überzeugungen. Und die Demut vor dem Privileg, mit dabei sein zu dürfen, wenn der erste Rohentwurf der Zeitgeschichte geschrieben wird. Wichtige Fundamente Deiner Arbeit waren auch Dein enormes Geschichtswissen und Deine Begeisterungsfähigkeit für alles, wofür Du „gebrannt“ hast.

Und irgendwann hast Du für uns die Grundprinzipien eines verantwortungsbewussten Journalismus auf drei Sätze verknappt: „Aus der Geschichte lernen. Gegen Vorurteile kämpfen. Und zur Toleranz erziehen“. An ihrer Gültigkeit wird Dein Abschied von uns nichts ändern. Ich träume davon, dass es uns gelingt, dieses Vermächtnis in das Morgen hinüber zu retten. Und dass wir künftig genau hinschauen, wenn Dein Name, Dein Lebenswerk, für andere, vordergründige Interessen ausgenützt werden soll.

Noch ein Fundament Deiner Arbeit möchte ich nennen, das in unserem Zusammenleben immer wichtiger werden wird. Es ist die Bereitschaft, zu verbinden und zu versöhnen, vor und hinter den Kulissen – Österreich und der Wahrheit zuliebe. Du hast es immer wieder getan – und Dich dafür nie in die Auslage gestellt. Vom ORF über Dich befragt, hat ein Passant zuletzt daran erinnert, dass Du ein Leben lang immer klar gesagt hast, was Dir, jenseits aller Parteigrenzen, wichtig war – und dass Du trotzdem keine Feinde gehabt hast.

Menschen wie Dich, die dazu fähig sind, braucht jede Gemeinschaft – und sie werden in Zeiten der „Filterblasen“ immer wichtiger! Für den Journalismus nach Deinem Verständnis heißt das: dass ein Interview kein Verhör sein muss, ein Kommentar kein Inquisitionsbericht und ein Medium kein moderner Pranger. Oft hast Du uns gemahnt, die so schwierige Willensbildung in der Demokratie nicht als „Zank“ und „Streiterei“ schlecht zu machen – und einen Kompromiss nicht als „Kuschelei“.

Medien waren für Dich jedenfalls keine Tummelplätze für Ideologen und Kreuzritter, für Linientreue und Scheuklappenträger. Und, ganz wichtig: Immer musste unseren Lesern, Hörern, Sehern das Recht auf Zweifel und Widerspruch gewahrt bleiben! In Deinen späten Jahren haben wir mehrmals darüber geredet: Wird es der Journalismus von Morgen noch schaffen, den Zement unseres gesellschaftlichen Zusammenhalts anzurühren? Eine sichere Antwort darauf haben wir nicht gefunden.

Mein lieber Hugo, am Ende Deines Lebens bist Du immer stiller geworden. Aus Deinem umwerfenden Lachen von früher ist ein freundliches Lächeln geworden – Zeichen Deiner Einsicht, dass Deine altersmüden Ohren nicht mehr alles hören mussten, was rund um Dich gesagt worden ist. Und doch war Dein Interesse am Gang der Welt ungebrochen. Nicht vorstellbar ein Morgen ohne internationale Radionachrichten und ein Vormittag ohne Zeitungslektüre. Und oft habe ich auch bewundert, welch top-aktuelle Bücher bis zuletzt den Weg zu Dir gefunden haben.

Nur wenige Tage nach Deinem 94. Geburtstag, den wir noch mit einem Glas Champagner gefeiert haben, bist Du „zur Stärkung“ ins Krankenhaus eingezogen – und hast es nicht mehr verlassen. Bis Du eingeschlafen bist. Was ich seither erlebt habe, das kenne ich bisher nur vom Heimgang des unvergesslichen Kardinal Königs: dieses enorme Ausmaß an öffentlichem Respekt und Bewunderung, hinter dem ich eine weit stärkere Sehnsucht nach Vorbildfiguren spüre, als wir in unserer härter gewordenen Zeit vermuten würden. Für diese Erkenntnis bin ich trotz aller Trauer dankbar und stolz: Stolz auf unsere Landsleute, für ihren Respekt und ihre Zuneigung. Und enorm dankbar für Dein Leben, Dein Denken und Wirken, für Dein Vorbild – und für Deine Freundschaft! Lebe wohl, lieber Hugo!

Heinz Nußbaumer war mehr als 20 Jahre lang Außenpolitik-Chef des KURIER. Er ist seit 2003 Herausgeber der Wochenzeitung „Die Furche“.

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