Erdoğan - Sünden und Stabilität

Erdoğan - Sünden und Stabilität
Erdoğan bleibt Präsident. Das ist, bei aller berechtigten Kritik am türkischen „Pascha“, am Ende vielleicht gar keine so schlechte Nachricht.
Andreas Schwarz

Andreas Schwarz

Nichts ist aus der Wende am Bosporus geworden, aus „Demokratie statt Autokratie“, aus dem Ende der Ära Erdoğan: Der türkische Präsident hat die Stichwahl gegen seinen Herausforderer am Sonntag gewonnen, wie schon den ersten Wahlgang vor zwei Wochen – damals gegen alle Prognosen. Und auch wenn Wahlen in der Türkei nicht nach allerhöchsten westlichen Standards ablaufen: Von Wahlbetrug spricht niemand. Das Votum für Recep Tayyip Erdoğan war sauber.

Womit sich schon die Frage stellt: War die Zuversicht, mit der die Medien im Westen, aber auch viele Türken den Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu begleiteten, den bodenständigen „Gandhi Kemal“ hochstilisierten, wieder einmal „wishful thinking“, fernab der Realität? Wie schon oft, wenn sich eine intellektuelle Elite einen Autokraten wegwünschte – der „Arabische Frühling“ ist gut in Erinnerung. Damals ging in Kairo und anderen Städten eine aufgeklärte Menge auf die Straße und vermittelte den Eindruck, das Land erhebe sich gegen die Despoten; der Westen setzte sich drauf auf die Demokratie-Bewegung – das Scheitern ist jüngere Geschichte.

In der Türkei war und ist die Gesellschaft tatsächlich gespalten. Aber die Umbruchstimmung vor allem in den Städten deckt sich nicht mit der Erdoğan-Treue auf dem Land. Und die Metamorphose des Herzen zeigenden Herausforderers des ersten Wahlgangs zum nationalistischen Schreier im zweiten hat das Vertrauen in einen Umbruch nicht gesteigert.

Erdoğan bleibt auch nach 20 Jahren an der Macht. Er hat alles dazu getan, sie zu behalten: Ausschaltung unliebsamer Gegner, Missbrauch der Justiz, Gängelung der Medien, Muskelspiel im Ausland – das Sündenregister des türkischen „Paschas“ ist lang.

Eine Mehrheit hat ihm aber auch in wirtschaftlich dürren Zeiten, bei galoppierender Inflation und kaum glaubwürdigen Versprechen die Stimme gegeben. Erdoğan ist undemokratischer Islamist, poltert der Westen gerne (und EU-Europa schlug ihm aufgrund der Menschenrechtslage zu Recht die Beitrittstüre zu) – aber die Türkei ist zu 99 Prozent muslimisch. Und Erdoğan hat das inhomogene Land an der Grenze von Europa zu Asien mit alle seinen Problemen, mit Millionen Flüchtlingen zusammengehalten.

Oder anders: Dass er die Hagia Sophia in Istanbul in eine Moschee zurückverwandelt hat (Sinnbild für die Entsäkularisierung der Türkei), hat Europa empört – aber ein Hochkochen radikal-islamistischer Tendenzen hat Erdoğan in seinem Land verhindert.

Vielleicht ist die nächste Zukunft für beide Seiten entspannter: Erdoğan muss nach der gewonnenen Wahl nicht mehr den Haudrauf geben; Europa kann versuchen, mit dem Mann am Bosporus wieder ins Gespräch zu kommen. Auch, weil es ihn als Garant für Stabilität an der Grenze von Orient und Okzident brauchen könnte.

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