Der Gehaltspoker ist eröffnet
Beim Bezahlen der Stromrechnung beschleicht einen das Gefühl, dass der eigene Blutdruck parallel zum Rechnungsbetrag einen ungesund hohen Wert erreicht hat. Nun macht der Obmann der Bundessparte Handel seinem Ärger medial Luft. Im Juli 2021 habe er für sein Modegeschäft noch 6.000 Euro Stromrechnung bezahlt, voriges Monat seien es um 10.000 Euro mehr gewesen. Gegen das, was sich jetzt bei den Energiepreisen abspielt, seien die Corona-Folgen im Handel „ein Kindergeburtstag“.
Klingt dramatisch bis theatralisch. Ist es auch.
Schließlich steht der Herbst vor der Tür. Und damit die Kollektivvertragsverhandlungen, bei denen die Verhandlungspartner lang vor Ertönen des Gongs zur ersten Lohnrunde ihre Positionen abstecken. Theaterdonner gehört traditionell dazu. Die Gewerkschaft hat längst lautstark nach einer Reallohnerhöhung gerufen. Und zwar nach einer „nachhaltigen“. Soll heißen: eine, die im Kollektivvertrag verankert wird. Mit einer Einmalzahlung werde man sich nicht abspeisen lassen, tönt es aus dem Gewerkschaftseck. Genau diese schwebt allerdings dem Gegenüber vor – und zwar vorzugsweise steuer- und abgabenfrei. Man habe schließlich nichts zu verschenken. Die Konsumlaune sei im Keller, das Geschäft ebenso.
Einig sind sich die Sozialpartner im Grunde nur darüber, dass der Gehaltspoker heuer besonders „zach“ wird. Die Inflation ist unbestritten hoch. Voraussichtlich wird eine Jahresteuerungsrate von 5,8 Prozent als Verhandlungsbasis auf dem Tisch landen. Pensionistenvertreter träumen aktuell sogar von einer Pensionsanhebung um zehn Prozent.
Auszustreiten ist diesen Herbst jedenfalls, inwieweit diverse staatliche Teuerungsausgleiche mit der Teuerungsrate gegengerechnet werden. Klingt fies, ist es nicht. Bei größeren Unternehmen schlägt sich ein Prozentpunkt mehr KV-Gehalt schnell massiv auf der Kostenseite zu Buche. Wenn die 10-Prozent-Forderung der Pensionistenvertreter Schule macht, können viele Unternehmer gleich einpacken. Und letztlich auch die Gewerkschaft, die mit überzogenen Forderungen genau das Gegenteil von dem erreicht, was sie will: Kündigungen statt attraktiver Arbeitsplätze.
Apropos. Allein im Handel sind aktuell 14.600 Stellen offen – um 50 Prozent mehr als vor einem Jahr. „Nur“ den KV-Lohn zu zahlen, werden sich bei dieser Arbeitsmarktsituation ohnehin immer weniger Firmen leisten können.
Auch werden sich die Sozialpartner mittelfristig ernsthaft über flexiblere Arbeitszeitmodelle unterhalten müssen, die im gesellschaftlichen Wandel hin zu mehr Teilzeit, Homeoffice und Gestaltungsmöglichkeiten am Arbeitsplatz nicht mehr wegzudiskutieren sind.
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