Das Wachsen der Ränder oder das politische Long Covid
Man nehme: Eine glaubwürdige, redegewandte Person an der Spitze, setze auf ein Kernthema, nicht ganz radikal, damit man für potenzielle Wähler attraktiv werde. Fertig ist er, der politische Rand, der in Salzburg, Niederösterreich und Graz gestärkt wurde. Links wie rechts.
Ganz anders das Bild, das die politische Mitte abgibt. Hier tummeln sich Funktionäre, die gefühlt über Jahrzehnte Parteikarriere machen mussten, vor allem für den Machterhalt stehen und sich mehr mit dem politischen Partner oder besser noch mit sich selbst beschäftigen. ÖVP und Grüne haben vor, bis zur kommenden Nationalratswahl dem jeweiligen Gegenüber das Haxl zu stellen und ihn zu provozieren (der ÖVP-Kanzler als Benzin-Bruder, die grüne Justizministerin als Pflichtverteidigerin der Chefankläger). In der SPÖ zünden sich die Flügel der Partei gerade öffentlich gegenseitig an, bis die ganze Partei wie Ikarus vom Himmel fällt. Und die Neos? Gute Frage, wenig konkrete Antworten, gefühlter Stillstand.
Dass das Volk, das sich nach Corona, Teuerung und Korruption von der Elite nicht mehr verstanden und vertreten fühlt, daher immer mehr nach rechts zur FPÖ oder links zu Kommunisten ausweicht, ist furcht- wie erklärbar, und in anderen Ländern wie in Italien (Meloni), Frankreich (Mélenchon) und Teilen Deutschlands (AfD) schon passiert.
Das Verwunderliche an der Krise der politischen Mitte ist, dass sie keine Anstalten macht, diese zu beenden. Bleiben wir bei der Frage der Themen und deren authentischen Verkaufs. Mitten in einer Spitalskrise profitiert die SPÖ trotz Ärztin an der Spitze nicht von diesem medizinischen Notstand. Die SPÖ kritisiert, dass die Regierung keinen Deckel für Altbaumieten zusammenbringt. Im meist betroffenen Gebiet, in Wien, tut sie das auch nicht, obwohl sie hier regiert. Das Thema wird von den Kommunisten besetzt und von ihnen für Wahlen in Wien und im Bund aufbereitet.
Nicht besser die ÖVP: Da sperrt die Medienministerin eine Zeitung zu und treibt durch ein geplantes ORF-Gesetz den privaten Medienmarkt in Nöte. Der Wirtschaftsminister ist Top-Experte, aber Unternehmer und Leistungsträger vermissen jenen Punch, der ihnen Hoffnung gibt. Der Kanzler reist mit dem Agrarminister nach Angola und Ghana, was dem Österreicher aktuell auch nicht hilft.
Nur: Mit der FPÖ beschäftigt sich niemand tiefgehend. Es wird nicht dekonstruiert, dass scheinbar-populäre Lösungen oft nicht taugen. Sie wird nicht hart angefasst, in den Ländern dient sie der ÖVP als Steigbügelhalter, um Rot zu verhindern. Die Skandale der FPÖ wurden auf andere, meist auf die ÖVP, projiziert. Auch die Medien beschäftigen sich mehr mit SPÖ-Führungs- und ÖVP-Justizfragen, die FPÖ wiederum braucht die klassischen Medien ohnehin nicht. Wenn das weitergeht, kommt Kickl still und heimlich an die Macht, ohne dafür etwas tun zu müssen. Und die Mitte wird sich die Frage stellen, warum man nach Corona zum Schlafwandler geworden ist.
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