Wut: Die Emotion der Stunde und wie wir sie nutzen können

Wut: Die Emotion der Stunde und wie wir sie nutzen können
Verängstigt, enttäuscht, gedemütigt – Soziologen beobachten seit den 1990ern, dass die Wut immer präsenter wird. Ein neues Buch zeigt auch, wie wir da wieder rauskommen.

Sie sei eine wütende Frau. Das sagt Johanna Kuroczik über sich selbst. Und auch, dass die Wut die Stimmung der Stunde sei.

Wenn man sich umschaut, ist man geneigt der deutschen Humanmedizinerin und Buchautorin recht zu geben. Obwohl uns über Jahrzehnte in Yoga-Retreats gepredigt wurde, dass wütend sein, primitiv und böse ist, dominiert das explosive Gefühl die Welt wie kaum ein anderes. Kuroczik hat sich daher angeschaut, was antike Philosophen, die Bibel, Sprachwissenschafter und die modernen Neurowissenschaft über den Furor wissen, der uns derzeit in Atem hält.

KURIER: Frau Kuroczik, leben wir in einer Epoche der Wut?

Wut: Die Emotion der Stunde und wie wir sie nutzen können

Ärztin und Autorin mit Hang zu Wut. Und Mut: Johanna Kuroczik 

Johanna Kuroczik: Unbedingt, Wut ist die Emotion der Stunde. Wir kommen gerade aus einer relativ wutarmen Episode. Doch seit dem 11. September 2001 – 9/11 – haben viele das Gefühl, in einer konstanten Krise zu leben, die sich zuspitzt. Gleichzeitig hat sich der Zorn in der Gesellschaft unheimlich breitgemacht. Wut ist eine Reaktion auf Bedrohung. Derzeit fühlen sich viele Menschen bedroht und verunsichert durch aktuelle Geschehnisse – Klimawandel, Pandemie und Krieg. Dazu kommt eine wahnsinnige Ungerechtigkeit. Das ist etwas, das der Mensch nur ganz schwer ertragen kann. Es ist ein sehr wichtiger Wutfaktor. Psychologisch gesprochen, sichert dieser Mechanismus das Zusammenleben in der Gesellschaft. Und das wird im Moment durch den Krieg und einen Alleingänger wie Putin verletzt. Weil Nachrichten sich zudem so wahnsinnig schnell verbreiten, findet man immer mehr Gründe, um wütend zu sein. Gleichzeitig wissen wir nicht, wie wir damit konstruktiv umgehen sollen. Das macht hilflos.

Dabei ist Wut heutzutage ja eindeutig out. Sie hat einen schlechten Ruf...

... ja, die Art wie wir auf Wut schauen hat sich stark geändert. Denken Sie nur an die Ilias von Homer, die vom Zorn des Achilles dominiert ist. Damals war der Zorn überhaupt nichts Verwerfliches, sondern ein Instrument des Machterhalts. Aristoteles hat den Zorn als Reaktion auf eine Beleidigung von jemanden beschrieben, dem das nicht zusteht. Das Gefühl ist also immer mit Macht verbunden. Seneca wiederum konnte der Wut sehr wenig abgewinnen: Es nannte sie eine kurze Geisteskrankheit.

Wie geht man konstruktiv mit Wut um?

Sie ist eine überlebenswichtige Emotion, Teil der Kampf- und Fluchtreaktion, die seit Jahrtausenden tief in unserem Körper verankert ist. Wut dient unserer Verteidigung, zeigt mir ein Problem auf, lässt mich meine Grenzen wahrnehmen – und übergangene Bedürfnisse. Und, dass ich beim Erreichen meiner Ziele blockiert werde. Um das für unsere Ziele zu nutzen, muss man hinter die Wut schauen und herausfinden, worum es wirklich geht. Ich habe als Ärztin in einer psychiatrischen Klinik beobachtet, dass ganz viele Menschen nicht realisieren, dass sie wütend sind. Viele Frauen sagen: „Ich bin traurig.“ Sie nehmen die Wut gar nicht wahr. Sich das bewusst zu machen, ist ein wichtiger Schritt.

Bei Männern gilt Wütendsein als Zeichen der Stärke, während Frauen als hysterisch abqualifiziert werden ...

... das war auch einer der Gründe, warum ich mich mit Wut beschäftigt habe. Wut ist eine große Bastion des Sexismus. Frauen gelten als zu emotional; gleichzeitig gilt diese Emotion als biologische Prädisposition für den Mann. Da heißt es entschuldigend: „Ach, das Testosteron!“ Mädchen dagegen werden schon früh aufgefordert, sanftmütig zu sein.

Was tut man da?

Als Frau zur Wut stehen! Auch kurzzeitig Ablehnung deswegen zu erfahren, ist ok. Weibliche Wut wird derzeit verstärkt diskutiert, und das ist auch gut so! Denn Frauen neigen mehr zu Depressionen. Psychologen meinen, dass das auch durch den nach innen gerichteten Ärger begünstigt sein könnte. Es ist also für die psychische Gesundheit von Frauen dringend nötig, dass sich da etwas tut.

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