Johanna Kuroczik: Unbedingt, Wut ist die Emotion der Stunde. Wir kommen gerade aus einer relativ wutarmen Episode. Doch seit dem 11. September 2001 – 9/11 – haben viele das Gefühl, in einer konstanten Krise zu leben, die sich zuspitzt. Gleichzeitig hat sich der Zorn in der Gesellschaft unheimlich breitgemacht. Wut ist eine Reaktion auf Bedrohung. Derzeit fühlen sich viele Menschen bedroht und verunsichert durch aktuelle Geschehnisse – Klimawandel, Pandemie und Krieg. Dazu kommt eine wahnsinnige Ungerechtigkeit. Das ist etwas, das der Mensch nur ganz schwer ertragen kann. Es ist ein sehr wichtiger Wutfaktor. Psychologisch gesprochen, sichert dieser Mechanismus das Zusammenleben in der Gesellschaft. Und das wird im Moment durch den Krieg und einen Alleingänger wie Putin verletzt. Weil Nachrichten sich zudem so wahnsinnig schnell verbreiten, findet man immer mehr Gründe, um wütend zu sein. Gleichzeitig wissen wir nicht, wie wir damit konstruktiv umgehen sollen. Das macht hilflos.
Dabei ist Wut heutzutage ja eindeutig out. Sie hat einen schlechten Ruf...
... ja, die Art wie wir auf Wut schauen hat sich stark geändert. Denken Sie nur an die Ilias von Homer, die vom Zorn des Achilles dominiert ist. Damals war der Zorn überhaupt nichts Verwerfliches, sondern ein Instrument des Machterhalts. Aristoteles hat den Zorn als Reaktion auf eine Beleidigung von jemanden beschrieben, dem das nicht zusteht. Das Gefühl ist also immer mit Macht verbunden. Seneca wiederum konnte der Wut sehr wenig abgewinnen: Es nannte sie eine kurze Geisteskrankheit.
Wie geht man konstruktiv mit Wut um?
Sie ist eine überlebenswichtige Emotion, Teil der Kampf- und Fluchtreaktion, die seit Jahrtausenden tief in unserem Körper verankert ist. Wut dient unserer Verteidigung, zeigt mir ein Problem auf, lässt mich meine Grenzen wahrnehmen – und übergangene Bedürfnisse. Und, dass ich beim Erreichen meiner Ziele blockiert werde. Um das für unsere Ziele zu nutzen, muss man hinter die Wut schauen und herausfinden, worum es wirklich geht. Ich habe als Ärztin in einer psychiatrischen Klinik beobachtet, dass ganz viele Menschen nicht realisieren, dass sie wütend sind. Viele Frauen sagen: „Ich bin traurig.“ Sie nehmen die Wut gar nicht wahr. Sich das bewusst zu machen, ist ein wichtiger Schritt.
Bei Männern gilt Wütendsein als Zeichen der Stärke, während Frauen als hysterisch abqualifiziert werden ...
... das war auch einer der Gründe, warum ich mich mit Wut beschäftigt habe. Wut ist eine große Bastion des Sexismus. Frauen gelten als zu emotional; gleichzeitig gilt diese Emotion als biologische Prädisposition für den Mann. Da heißt es entschuldigend: „Ach, das Testosteron!“ Mädchen dagegen werden schon früh aufgefordert, sanftmütig zu sein.
Was tut man da?
Als Frau zur Wut stehen! Auch kurzzeitig Ablehnung deswegen zu erfahren, ist ok. Weibliche Wut wird derzeit verstärkt diskutiert, und das ist auch gut so! Denn Frauen neigen mehr zu Depressionen. Psychologen meinen, dass das auch durch den nach innen gerichteten Ärger begünstigt sein könnte. Es ist also für die psychische Gesundheit von Frauen dringend nötig, dass sich da etwas tut.
Kommentare