Schweiz: Wo der größte Gletscher der Alpen ins Tal gurgelt

Kleiner Mensch, große Naturgewalt. Vor dem Gletscher zu stehen, verändert die Perspektive
Zusammenfassung
- Der Aletschgletscher im Wallis ist der größte der Alpen und leidet zunehmend unter den Auswirkungen der Klimakrise.
- Der Gletscher verliert jährlich an Länge und Volumen, was die dramatischen Folgen der Erderwärmung verdeutlicht.
- Initiativen zum Naturschutz sollen Bewusstsein für den Erhalt der Region schaffen.
Einatmen, ausatmen. So hyperventiliert sich die Höhenangst weg. Vor einem: hundertsechzig Meter wackelige Hängebrücke. Unter einem: hundertzwanzig Meter Schlucht. Über Geröll fließt in großen Adern das türkisgraue Schmelzwasser des Gletschers ins Tal. Einen Moment rechnet das angstgesteuerte Gehirn aus, ob aufgeben eine Alternative ist, kommt aber zum wenig überraschenden Ergebnis: Leider nein. Einatmen. Ausatmen.

Nichts für Menschen mit Höhenangst: Die Hängebrücke sorgt für zittrige Knie
Der Große Aletschgletscher im Kanton Wallis ist mit achtzig Quadratkilometern Fläche und zwanzig Kilometern Länge der größte der Alpen. Bergführer Klaus gibt den Weg vor, er erklärt Tiere, Pflanzen und das lokale Idiom. Wer hier oben mit Grüezi grüßt, enttarne sich als Tourist, schlimmer: als Zürcher. Das Walliserdeutsch gurgelt aus den Kehlen wie Gletscherflüsse, eine altertümliche und für Nicht-Walliser völlig unverständliche Sprache. Je weiter man den Berg hinaufkommt, desto trittsicherer wird auch das Schwyzerdütsch: Guete Morgu sagt man zu den Entgegenkommenden, huereguet für supertoll. Klaus war vierundvierzig Jahre lang Kantonspolizist in Zermatt, gerufen wurde er immer dann, wenn es Alpinunfälle gab. „In den 1980er-Jahren gab es eine besonders schlimme Saison: achtzehn Tote in nur einem Sommer“, erzählt er. Denn der Berg ist erbarmungslos, er verzeiht weder Selbstüberschätzung noch Fehltritte.

Bergführer Klaus geht sportlich voraus
Der Panoramaweg, der den Gletscher entlang führt, ist relativ zahm, fordert aber Ausdauer und Fitness. Und der Bergführer gibt ein schnelles Tempo vor. Lange Verschnaufpausen oder verträumte Blicke in die Landschaft kennt das Schweizer Uhrwerk nicht. Während man selbst schwitzt, keucht, manchmal flucht, ist sein Optimismus nicht zu brechen: „Tipptopp, weiter geht’s!“, so treibt er die Wandergruppe zu Höchstleistungen. Die Tour startet in Riederalp, einem Postkartenbergdorf, das nur per Seilbahn zu erreichen ist. Der erste Aufstieg führt zur Villa Cassel, der ersten offiziellen Unterkunft der Region für die „Bergnarren“ und Naturforscher, die ab dem 19. Jahrhundert die Alpen entdeckten. Sogar Winston Churchill war zu Gast. Heute beherbergt die Villa ein Museum und ein Naturschutzzentrum.

Villa Cassel: Einst war hier Winston Churchill zu Gast, heute ist dort ein Naturschutzzentrum
Burj Khalifa aus Eis
Man bekommt dort (und unten im Tal im World Nature Forum Naters) die geballte Ladung Fakten:
Das Gletschereis bringt zehn Milliarden Tonnen auf die Waage und fasst zwanzig Prozent des gesamten Eisvolumens der Schweiz. Würde der Gletscher vollständig schmelzen, könnte jeder Mensch der Erde für etwa dreieinhalb Jahre täglich mit einem Liter Wasser versorgt werden. Am Konkordiaplatz (das Eis ist dort mit etwa achthundert Metern so dick wie der Burj Khalifa in Dubai hoch) fließen drei Gletscherzungen zusammen. Was sich als dunkle Linien über den ganzen Eisstrom nach unten zieht, sind die zwei Mittelmoränen, „Kranzberg“ und „Trugberg“.
Der Weg biegt um die Ecke, da hat man ihn das erste Mal in voller Länge im Blick – den großen Gletscher. Dahinter die Gipfel von Eiger, Jungfrau, Mönch. Die Dimensionen sind unbegreiflich.
Sogar wenn man direkt davor steht.

Kleiner Mensch, große Naturgewalt. Vor dem Gletscher zu stehen, verändert die Perspektive
Ein Gigant verschwindet
Klaus erinnert sich, wie weit das Eis vor fünfundzwanzig Jahren noch nach unten reichte und zeigt auf eine Stelle, wo heute nur mehr eisfreies Geröll ist. „Früher wollten es viele Einheimische nicht wahrhaben. Heute sind alle sehr betroffen. Dass es so weit ist, haben wir Menschen mit unserem Verhalten zu verantworten“, sagt Klaus.
Die Klimakrise ist eine stille Katastrophe. Oft bleibt sie abstrakt, nicht richtig greifbar. Ein oder zwei Grad Erderhitzung – was heißt das schon? Hier, weit über der Baumgrenze spürt man aber sehr deutlich, was das heißt. Bei einem Grad mehr taut der Permafrost (dauerhaft gefrorener Boden), schon jetzt müssen Sessellifte wegen Hangrutschungen verlegt werden. Der Gletscher selbst verliert jährlich bis zu fünfzig Meter seiner Länge und wird bis zum Jahr 2100 knapp die Hälfte seines Volumens einbüßen. Jeder Hitzesommer setzt ihm weiter zu, das Eis schmilzt exponentiell. In Erdzeit gemessen, passiert das alles im Zeitraffer.
Auf Blumenwiesen grasen schwarznasige Schafe, auf Kuhhälsen baumeln Glocken, es pfeifen Murmeltiere, Gipfel glühen in der Nachmittagssonne. Im gleichen Moment grollt und brummt der Berg, unter dem das Schmelzwasser Richtung Tal rauscht, im gleichen Moment knarzen die Gletscherspalten. Die Gleichzeitigkeit von Schönheit und Gewalt, von Kitsch und Krise ist schwer zu begreifen. Hier endet die Verdrängung. Man schaut auf den unbemerkt nach unten fließenden Gletscher und merkt: Die Klimakrise passiert nicht irgendwann, sondern jetzt; nicht irgendwo, sondern hier.

Der Märjelensee taucht kurz vorm Ende der ersten Etappe auf
Anreise
Zug von Wien nach Zürich, weiter über Bern bis Mörel zur Riederalpbahn. Swiss Travel Pass für Fahrten innerhalb der Schweiz, oebb.at
Wanderreise
Eurotrek organisiert individuelle Wanderreisen in der Schweiz, mit Gepäcktransport. In Österreich ist der Veranstalter eurohike.at
Saison
Die Sommersaison beginnt mit 1. Juni (bis Oktober). Auskunft auf
aletscharena.ch und myswitzerland.com
Naturforum Naters
Ausstellungen zur Welterbe-Region und Auswirkungen der Klimakrise. wnf.ch
Fernseh-Tipp
Die SRF-Krimiserie „Tschugger“ spielt im Wallis. Schräg und voll Lokalkolorit. Ohne Untertitel geht aber nichts. Streamen auf Netflix
Bock und Brücke
Mit Naturschutz-Initiativen will man die Landschaft vor Eingriffen schützen und Bewusstsein schaffen. Über die Natur der Welterbe-Region wacht auch der Rollibock, eine alte Sagengestalt mit feurigen Augen, langen Hörnern und grausam klirrenden Eisschollen am Körper. Er lebt im Eis des Gletschers und ist gnadenlos mit jenen, die in die unberührte Bergwelt eingreifen. Einst ertränkte er im Märjelensee einen Mann, der dort Bergkristalle raubte und wilderte – und der Gletschersee ergoss sich zerstörerisch ins Tal. Heute ist es dort ruhig, der Rollibock lässt die Wanderer in Ruhe Rivella trinken. Bis Klaus sie wieder aufscheucht, in die Hände klatscht und ruft: „Tipptopp...!“ Man weiß schon was kommt und ergänzt brav, aber seufzend: „Weiter geht’s!“

Ein letztes Foto vor dem Gletscher, vom Aussichtspunkt Eggishorn
Vom Eggishorn hat man den Eisgiganten ein letztes Mal im Blick, dann müssen die Knie stark sein. Ab jetzt geht es nur noch runter, runter, runter. Irgendwann taucht am Ende der rund dreißig Kilometer langen Wanderung endlich das Dorf Bellwald auf, mit alten Holzhäuschen und Stadeln.

Altes Holzhaus von Bellwald
Doch davor wartet die Hängebrücke. Einatmen, ausatmen. Drüben angekommen, ist Klaus „megastolz“ und hebt die Hände zum Highfive. „Das war huereguet!“
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