Marketing gegen den Schönheitswahn

Marketing gegen den Schönheitswahn
Einwandfreie Ware landet im Müll, weil sie nicht schön genug ist. Initiativen wollen das ändern.

Wer die Idealmaße nicht erreicht, fliegt raus. Diese Regel gilt nicht nur bei Castings von Topmodels, sondern auch bei der Besetzung von Gemüse- und Obstkisten. Verwachsene Karotten, krumme Gurken oder unförmige Äpfel landen tonnenweise im Müll, weil sie Supermarkt-Manager zu wenig attraktiv finden. Konsumenten greifen nur zu einwandfreier Ware, argumentieren Händler. Es gibt aber auch Ausnahmen, wie Beispiele quer über den Kontinent zeigen.

Der Franzose Nicolas Chabanne hat in seinem Heimatland das Hässliche salonfähig oder zumindest Supermarkt-tauglich gemacht. Mit seiner Marke Gueules Cassées, was so viel wie "kaputte Visagen" heißt. Wo das Logo – ein zahnloser, grinsender Apfel – drauf ist, steckt einwandfrei zum Verzehr geeignete Ware drin, die aber Schönheitsfehler aufweist. Entweder sind Farbe oder Form nicht optimal oder das Produkt ist nahe am Verfallsdatum. Die Initiative kam so gut an, dass Chabanne schon nach wenigen Monaten tonnenweise verbeultes Gemüse verkauft hatte. Ein Cent pro verkauftem Artikel geht an karitative Organisationen. Mittlerweile gibt es das Label schon in Supermarktketten wie Carrefour oder Leclerc.

Österreichs größter Lebensmittelhändler, die Rewe-Group (Billa, Merkur, Adeg), hat im Oktober 2013 die Eigenmarke "Wunderlinge" eingeführt. Unter ihr verkauft Rewe Obst und Gemüse, das irgendwie aussieht, als komme es aus dem eigenen Garten – wo auch nicht alles kerzengerade und nach optimalen Maßstäben wächst.

Wunder der Natur

Im Vorjahr hat der Konzern mehr als 5600 Tonnen Wunderlinge verkauft. "Bisher blieb das Obst und Gemüse mit optischen Mängeln am Feld liegen, wurde an Tiere verfüttert, in der Industrie verarbeitet oder teilweise Tausende Kilometer weit weg transportiert und dort vermarktet", sagt ein Rewe-Sprecher. Abhängig vom Angebot würden unter der Marke neben heimischen Kartoffeln und Äpfeln auch günstige Paprika, Zucchini oder Zitronen verkauft werden und so Lieferanten neue Absatzkanäle geboten.

Der britische Branchenkollege Sainsbury – der rund 1000 Supermärkte auf der Insel betreibt – schlug diesen Weg schon im September 2012 ein. Die Idee, krumme Kartoffeln und Tomaten in die Regale zu nehmen, entstand aus einer Not heraus. Die Briten hatten mit den Folgen des trockensten März in 60 Jahren zu kämpfen, danach kamen zu viel Regen und letztlich ein Hagel, der ein Viertel der Ernte vernichtete. Aus Mangel an Nachschub beschlossen die Sainsbury-Manager auch jenes Gemüse in die Filialen zu holen, das in normalen Jahren einfach am Feld verrottet wäre. Die Aktion war so erfolgreich, dass Konkurrenten in Großbritannien schnell dem Sainsbury-Vorbild folgten. Schon im Dezember des gleichen Jahres berichtete die Financial Times, dass britische Konsumenten so viel hässliches Gemüse gekauft hatten, dass man mit der Menge ganze 2500 Boeing 747 hätten füllen können. Es war von 300.000 Tonnen die Rede.

Verbogenes für Städter

In Portugal sagt die Kooperative Fruta Feia der Lebensmittelverschwendung den Kampf an. Weil Obst und Gemüse bei Form, Größe und Farbe immer stärker normiert wird, fällt ein immer größerer Teil der Ernte durch den Schönheitsraster und wird gleich vom landwirtschaftlichen Betrieb vernichtet. Schätzungen zufolge gehen so 40 Prozent der Ernte verloren. Fruta Feia kauft Bauern Ausschussware ab und bringt sie nach Lissabon und in die Stadt Oeiras. Dort kommen Kunden die Ware an fixen Stationen abholen – Hauszustellungen macht die Kooperative keine – zu teuer, sagen die Mitarbeiter. Laut Fruta Feia wurden so schon mehr als 200 Tonnen Lebensmittel vor dem Verderben gerettet.

Für den Wiener Starkoch Heinz Reitbauer vom Restaurant Steirereck ist Krummes und Unsymmetrisches nichts Besonderes. "Wir kaufen Obst und Gemüse direkt beim Bauern ein und bekommen selbstverständlich auch sogenannte Misfits. Für mich ist das sogar ein Qualitätskriterium, schließlich schmeckt so ein Gemüse auch besser", sagt Reitbauer.

Trotz aller Erfolgsbeispiele hat die Rettung der krummen Dinger auch ihre Grenzen. Da in der Gastronomie und Industrie immer mehr maschinell geschält wird, ist alles, was nicht der Norm entspricht, für die Maschinen ein Problem. Und damit keine Option, wissen Branchenkenner. Selbst bei Öko-Betrieben bleibt ab einer gewissen Größe ein Teil der Ernte am Feld liegen. Grund dafür sind auch hier die Maschinen, die die Arbeit erleichtern. Auf dem Biohof Adamah, der Wiener Haushalte mit Biokistln beliefert, verrotten rund zehn Prozent der Karotten auf dem Feld. "Das Gemüse mit der Hand nachzuernten, würde mehr kosten, als der Verkauf der Karotten einbringt", sagt Firmenchef Gerhard Zoubek. In seinen Gemüsekistln gibt es kaum Misfits, so Zoubek: "Konsumenten sind von der Hochglanz-Bio-Werbung und dem aufpolierten Angebot in den Supermärkten so verwöhnt, dass sie nur zu optisch einwandfreier Ware greifen." Der Öko-Bauer versucht seine Kunden bei Exkursionen für das Thema zu sensibilisieren. "Manchmal geben wir auch Äpfel mit Schalenfehlern in die Kistln, aber nie ohne zu erklären, dass die Qualität trotzdem passt."

Laut Schätzungen der Welternährungsorganisation wird rund ein Drittel der weltweit produzierten Lebensmittel nicht gegessen – in Zahlen jährlich rund 1,3 Milliarden Tonnen. Auf jeden EU-Bürger kommen statistisch gesehen jährlich 179 Kilogramm weggeworfener Lebensmittel, in Österreich landen jedes Jahr rund eine Million Tonnen im Müll, davon werden geschätzte 350.000 Tonnen schon von den produzierenden Betrieben entsorgt – oft wegen optischer Mängel. Das ist nicht nur ein moralisches, sondern auch ein ökologisches Problem, da unnötig Energie, Wasser und Düngemittel eingesetzt werden.

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