Türkischer Wahlkampf: Girlanden in Ampelfarben
Der Platz vor dem Gerichtsgebäude in Ağri, im äußersten Osten der Türkei an der Grenze zum Iran ging mehr als über. Die Querstraße war ebenfalls für den Verkehr gesperrt und mit Zehntausenden Menschen gefüllt. Von mehreren Ecken bis zur Ampel in der Mitte der Kreuzung spannten sich rot-gelb-grüne Luftballon-Girlanden, die Farben Kurdistans.
Viele der Teilnehmerinnen und Teilnehmer, ob Kinder oder Uralte schwenkten Fähnchen in eben diesen Farben und dazu noch lila (als Farbe der Frauenbewegung) und alle mit dem Baum-Symbol der HDP, der Halkların Demokratik Partisi (Demokratische Partei der Völker).
Regenbogen und Öcalan
In westlichen Medien fast immer als Kurdenpartei bezeichnet, ist sie zwar aus dieser hervorgegangen, hat sich aber nicht nur umbenannt, sondern ist tatsächlich ein Bündnis sehr vieler linksdemokratischer Bewegungen – bis hin zu der vom Gezi-Park in Istanbul sowie Lesben-, Schwulen- und Transgender-Initiativen. In Ağri wurde in den vordersten Reihen etwa deren Regenbogen-Fahne neben einer mit dem Bildnis von Abdullah Öcalan, dem unumstritten angehimmelten Gründer der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) geschwenkt.
Optimismus
Nicht nur die Zehntausenden, nicht nur die mitreißenden Reden von der Bühne, die Kampfeslieder, auch praktisch alle Meinungsumfragen der letzten Tage vor den Parlamentswahlen am 7. Juni sorgten für Optimismus der Kundgebung. Sie alle geben ihnen Hoffnung, die vielleicht weltweit höchste Hürde von zehn Prozent für den Einzug in eine Volksvertretung zu überspringen.
Gleichberechtigung
Neben Tanz und Gesang, viel umjubelt der Auftritt der berühmten kurdischen Sängerin Rojda und ihrer Band, kam auch in den Reden ein Grundsatz der HDP, den sie aus den kurdischen Vorgängerparteien übernommen hat, zum Ausdruck: Parität zwischen Frauen und Männern. Spitzenkandidatin der Region Ağri ist Leyla Zana, die 1991 als erste Kurdin Parlamentsabgeordnete wurde und nach dem türkischen Amtseid diesen auf Kurdisch wiederholte. Die Sprache war bis vor wenigen Jahren in der Türkei verboten. Drei Jahre später wurde ihre Immunität aufgehoben, sie zunächst zur Todesstrafe verurteilt, die später in 15 Jahre Haft umgewandelt wurde. Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof verurteilte die Türkei, erst 2004 kam sie frei, 2011 wurde sie per Direktmandat ins Parlament gewählt.
Co-Vorsitz
Hier sprach auch die Co-Vorsitzende Figen Yüksekdağ - im Business-Anzug. Die Listen der Kandidierenden sind im Reißverschluss, stets beginnend mit einer Frau erstellt. Selbst die ausgeübten Funktionen wie Stadt- und Dorf-Oberhäupter, werden – auch wenn dies formal nicht vorgesehen ist – geteilt. Hier in Ağri etwa sind es Sırrı Sakık und Mukaddes Kubilay. Letztere erklärt dem KURIER: “Wir teilen uns alle Aufgaben, es gibt keine Sonderzuständigkeit, dass die Frau für Schulen und der Mann für Finanzen zuständig ist oder so. Und wir teilen uns auch das Gehalt.”
An der Basis scheint die Gleichberechtigung zwischen Frauen und Männer noch nciht ganz angekommen zu sein. Schals, Teppiche und andere Devotionalien werden am Rand der Kundgebung nur mit dem Konterfei des Co-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş verkauft.
Vielfalt
Die Vielfalt – ethnisch und religiös, die die HDP vereinen will, war auch schon Anliegen der BDP, der Vorgängerpartei. So stellte sie mit Februniye Akyol als Co-Bürgermeisterin im südostanatolischen Mardin die einzige Christin in einem hohen Amt in der Türkei.
Provokationen
In diesen letzten Tagen vor der Wahl kam es am Rande von Kundgebungen hin und wieder auch zu Provokationen. In Erzurum etwa versuchte – wie die Nachrichtiengentur DIHA berichtete, eine organisierte Gruppe mit türkischen Fahnen die HDP-Kundgebung zu verhindern. Bereits in der Nacht zum Donnerstag ist ein Fahrer eines Wahlkampf-Kleinbusses in der Provinz Bingöl erschossen worden.
In den vergangenen Wochen gab es auch mehrere Explosionen in Parteibüros der HDP. Sie ordnet die Provokateure dem Lager der AKP zu. Obwohl er als Staatspräsident neutral sein müsste, hatte Recep Tayyip Erdoğan immer wieder Partei für die Partei ergriffen, aus der er kommt, insbesondere die neue oppositionelle Bewegung verbal stark attackiert und kryptisch von einem Plan B und C gesprochen, auf den man zurückgreifen könnte.
Immer nur lächeln!
„Es ist nicht leicht, unsere Jugendlichen zurückzuhalten“, meint der junge Wahlkampfmanager Kamuran Yüksek zum KURIER. „Die wollen sich das nicht gefallen lassen und eher zurückschlagen. Wir aber sagen: Immer nur lächeln. Unsere Antwort wird – hoffentlich - das Wahlergebnis sein!“
Insofern war die hohe Hürde vielleicht eine Art Turbo für die linksdemokratische Opposition. Und, sollte sie den Einzug ins Parlament schaffen, ein Eigentor der AKP, die damit die absolute Mehrheit verfehlen würde. Wenn aber nicht, dann – so fürchten hier viele – könnte es eher zu schlagkräftigen Auseinandersetzungen führen.
Kommentare