Wie kann so etwas passieren?
Alles beginnt mit einer lobenswerten Aktion. Jakob (19), Student und begeisterter Basketballspieler, merkt, wie in einer einsamen Unterführung zwei Typen ein Mädchen ungut angehen wollen, sich über ihren Schleier lustig machen. Zivilcouragiert greift er mit einer sogenannten paradoxen Intervention ein. „Was findet ihr besser: Manndeckung oder Zonenverteidigung?“ Er sei neu hier in Bonn – was stimmte – und ob sie wüssten, wo er hier Basketball spielen könne. Denn darauf hätte sich seine Frage bezogen. Lachflash der beiden, Ärger, ... doch der die beiden verwirrende Diskurs/Disput hatte zumindest so lange gedauert, bis endlich andere Leute in die Unterführung kamen und das Mädchen mit ihnen „entkam“.
Diese Augen
Doch da waren – die Augen der jungen Frau – die sich übrigens nicht einmal bedankt hatte. „Die Augen ... würden mich nicht loslassen, das wusste ich“, schreibt der Autor dieses knapp mehr als 300 Seiten starken, packenden Romans nach nicht einmal zehn Seiten.
Rückspiegel
Auf den ersten dreieinhalb Seiten sitzt Jakob, nun schon als Ya’qub, im Gefängnis und beginnt das Tagebuch des toten Schwagers zu lesen. In der Folge laufen – immer abwechselnd – Jakobs Leben und die Tagebucheinträge Adils ab – also alles im Rückspiegel.
- Erst das „normale“ Leben als Studienanfänger in Bonn in der WG mit seiner Freundin Liz.
- Die Begegnung in der Unterführung.
- Die Augen, die ihn nicht mehr losließen.
- Auf die er später in einem Zeitungs-Ausschnitt stößt, weswegen er zu einem Treffen in einer Moschee geht – wo er ihren Blicken kurz begegnet. Aber auch nicht mehr, weil dort ja Frauen und Männer strikt getrennt sind.
- Nächtlichen, heimlichen, weil eigentlich sündigen (= haram) Telefonaten mit Samira.
- Vielen, vielen Videos, die er sich – noch als Jakob – reinzieht.
- Einem immer stärkeren Gefühl der Leere, das sich beim Nachdenken über sein Leben – und das seines Umfeldes – breit macht. Konsumismus, Beliebigkeit...
- ein totaler Absturz gegen Ende einer durchsoffenen Nacht, bei dem ihm im Rinnsal genau nichts bleibt außer dem vollgekotzten Handy. Mit dem er Adil anruft, den er bei der Moschee-Versammlung kennen gelernt und der ihm angeboten hatte, ihn jederzeit anrufen zu können, wenn er was brauche.
Zunächst nur „vorübergehend“ für Tage zieht er bei Adil ein... Der – aber das wissen wir nun schon aus dem oben Geschriebenen. Ya’qub heiratet davor Samira, er selbst will nicht mit in den Krieg, gemeinsam wollen sie Adil in letzter Minute abhalten, was – wir wissen’s – schief geht.
Die Tagebuch-Einträge Adils zeigen (s)eine Entwicklung vom begeisterten Krieger bis zum letztlich Zweifler, ob es sich bei der Brutalität des IS wirklich nur um das handle, was er zunächst als „Jugendsünden“ eines neuen, grenzenlosen, gerechteren Staates (für sich) zu rechtfertigen suchte...
Schrittweise
Making of
Auf seiner Website schreibt Linker: „Hunderte Stunden mit Propaganda-Videos, nächtliche Chats und überraschend offene Gespräche bereiten den Boden, auf dem dieser Roman steht. Steht, nachdem er schon einmal gestorben war. Anfang 2010 hatte ich einen Roman begonnen, der an der Geschichte der „Sauerlandzelle“ inspiriert war.“ Diese war eine von Deutschland aus bis 2007 operierende deutsche terroristische Zelle im Grenzgebiet von Pakistan und Afghanistan.
Linker besuchte auch Salafisten-Versammlungen, sprach mit einigen, „schaute unzählige Videos, versank in Blogs und Tutorials, war irgendwann randvoll mit meinen Eindrücken: Ich hatte eine faszinierende Religion und viele aufgeschlossene Menschen kennengelernt – zugleich aber auch Leute, die diese Religion auf plumpe und brutale Weise missbrauchen.“
Das was er „wie im Wahn“ geschrieben hatte, wurde „ein völlig verkopftes Monster von Manuskript... mit löchriger Dramaturgie und mit Figuren, deren Motivation noch nicht mal mich selbst überzeugen konnte. .. Doch dann tauchte scheinbar wie aus dem Nichts diese Terrorgruppe auf, die sich selbst „Islamischer Staat“ nennt. Jetzt ist das Thema für mich erst recht gestorben, dachte ich. Da geschehen so schreckliche Dinge, dass ich unmöglich darüber schreiben könnte, dachte ich. Jetzt brauchen wir das Buch erst recht, fand hingegen mein Verlag. Beim gemeinsamen Anstehen mit der dtv-junior-Programmchefin in der Wurstbudenwarteschlange auf der Messe in Frankfurt schnappte das totgerittene Projekt plötzlich nach Luft, fing wieder zu leben an.“
Infos
Christian Linker:Ich hab vollkommen neu begonnen. Natürlich sind aber viele Grundgedanken wieder gekommen. Im Prinzip ist es ja ein Entwicklungsroman – ein Jugendlicher auf der Suche nach dem, was ihm im Leben, in der Gesellschaft fehlt. Aber jetzt hat das Ganze eine glaubhafte, nachvollziehbare Geschichte, im Erstversuch bin ich diesen Fragen eher psychologisierend nachgegangen.
Jetzt gibt es neben dem Jakob/ Ya’qub eben die Samira, in die er sich verliebt und den Freund/Schwager Adil, der direkt aus dem Daesh/IS via Tagebucheinträgen berichtet...
... genau, mit dem Erstarken des IS war für mich klar, diese Seite muss direkt vorkommen. Als Theologe habe ich eine Affinität zu Fragestellungen nach der Sinnsuche, die machen mir sogar Spaß. Und das Lebensumfeld des Jakob ist mir ja auch vertraut. Aber das war in dem Fall einfach zu wenig. Diese zweite Seite musste unbedingt rein. Davor hatte ich allerdings lange Angst, ja richtiggehend Schiss, die nackte Gewalt irgendwie darzustellen. Dieser Blutrausch der hat ja noch dazu etwas Nihilistisches. Nichts zählt mehr.
Und die Liebesgeschichte, die war bald als dramaturgischer „Trick“ da, ich hab sie aber nicht von Anna Kuschnarowas „Djihad Paradise“ (Beltz und Gelberg, 2013) abgekupfert. Ich hab mich einfach an meine eigene Geschichte erinnert, wie bin ich religiös geworden. Ich bin ja auch nicht nur Theologie wegen der Evangelien oder der kirchlichen Schriften gekommen, sondern wegen guter Freundinnen und Freunde, die gemeinsam gern die Freizeit verbringen, wo sich die eine oder der andere schon mal auch verliebt, erster Kuss und so weiter.
Wie haben Sie für die sogenannten Insider-Passagen recherchiert?
Als ich die Idee hatte, kam ich mir anfangs fast vor wie Karl May, der auch nie in den Gegenden war, über die er geschrieben hat, sondern sich nur aus Reiseberichten bediente. Ich hab mir natürlich auch einige Propagandavideos angeschaut, weil sie sehr anschaulich die Gewalt und Stimmung zeigen.
Hält man das aus?
Natürlich musst du das streng dosieren, so viele waren es nicht, sie verfolgen mich nicht nächtens. Erschreckender als die Gewalt, das Blut fast wie in Splatter-Movies selbst, fand ich etwa bei einem Enthauptungsvideo, wie richtgehend teilnahmslos die Umstehenden reagieren angesichts des schmerzverzerrten Gesichtes des Opfers. Aber natürlich lässt sich’s hier vom kuscheligen Arbeitszimmer in einer Demokratie leicht reden, ich wüsste ja selber auch nicht, wie ich unter solchen Umständen voller Angst und Schreckensherrschaft reagieren würde. Aber jedenfalls ist mir diese Situation sehr unter die Haut gegangen.
Ja, ich bin auf Blogs gestoßen, in denen Menschen, die in Raqqa, sozusagen der Hauptstadt des Kalifats, leben und aus dem Untergrund berichten – unter Lebensgefahr – auf Arabisch und Englisch:www.raqqa-sl.com/en/
Natürlich hab ich auch Aussagen von Rückkehrern in Prozessen verfolgt und über Facebook stößt du auf Einträge, wie dass dieser oder jener Bruder sich aufgemacht habe – samt Verknüpfung zu dessen Profil... Und dann eben die diversen Statusmeldungen, die – auch wenn sie natürlich immer wieder mit Vorsicht betrachtet werden müssen. Dann findest du virtuelle Friedhöfe sozusagen als Denkmäler für Märtyrer.
Die Einträge hab ich vor allem durchstöbert, um irgendetwas über den Alltag in diesem Unrechtssystem zu erfahren. So bin ich auch auf die Heiratsbörsen in Raqqa gekommen (die im Tagebuch Adils eine Rolle spielt), durch die das Kalifat eine aktive Bevölkerungspolitik in Gang setzen will. Die angestammte Bevölkerung fühlt sich ja teilweise wie kolonisiert von den ausländischen Söldnertruppen. Aber zwischen blutigen und kämpferischen Einträgen posten die mal zwischendurch auch Katzenvideos.
Sie haben auch in Deutschland in Moscheen recherchiert
Ja, nicht nur. Schon für den ersten Versuch war ich in Moscheen, wo du ganz leicht ins Gespräch kommst, aber auch bei öffentlichen Freitagsgebeten einer mittlerweile verbotenen stark salafistischen Gruppe – auf der einen Seite. Auf der anderen hielt eine Initiative „besorgter Bürger“ eine Gegenkundgebung ab. Aber wenn du auf der einen Seite die vielleicht angst einflößenden Bartträger siehst und auf der Gegenseite Neonazis oder sogenannte „besorgte Bürger“, dann kommend dir die Bartträger gesprächsbereiter vor. Mit einem Deutschen hab ich mich dann einmal länger unterhalten. Wir konnten auch ganz gut darüber reden wie und warum er zum Islam konvertiert ist... Dann stellte ich ihm die Hard-core-Frage, ob ich beispielsweise gesteinigt würde, wenn wir hier ein Kalifat hätten und ich mich nicht entsprechend verhalten würde. Naja, ich wäre ja nett und würde mich sicher richtig verhalten, meinte er erst. Ich meinte, aber wenn..? „Naja, dann selbstverständlich müsstest du gesteinigt werden, es wäre zwar schade um dich, aber...“
Ernüchtert?
Für mich hat das aber nichts mehr mit Religion zu tun, sondern mit Phänomenen von Gewalt und Unrechtssystemen. Darum hab ich im letzten Eintrag im Tagebuch, der von einer Nebenfigur, dem Max nach dem Tod Adils kommt, eine Rechtfertigung von Adolf Eichmann (im Faschismus oberster Zuständiger für die Vernichtung der Juden) eingebaut, dass alle Taten nach dem herrschenden System nicht nur rechtmäßig, sondern sogar Pflicht waren. Mir fällt dazu – und natürlich auch zu den anderen genannten Szenen, immer wieder der Spruch von Hannah Arendt von der „Banalität des Bösen“ ein.
Sie gehen ja oft auch auf Lesereisen, in Schulen, diskutieren mit Jugendlichen...
... aber ich sage immer, auch und gerade, wenn ich zu „Präventionstagen“ eingeladen werde, ein Buch ist Literatur, das kann kein pädagogisches Mittel sein, niemanden abschrecken oder nur nicht ermuntern. Bestenfalls kann es ein Einstieg für vertiefende Auseinandersetzung sein.
Und dann begleitet Max seinen neuen Freund an einem Freitag zum Gebet in die Moschee. „Ehrlich gesagt war ich gespannt, wie er es mir verkaufen wollte. Ich hatte ja schon alles Mögliche erlebt, den katholischen Vikar in der Grundschule, der immer mit uns Fußball spielen wollte, und die ganzen Gurus, Lamas und Gesundbeter, mit denen meine Eltern bekannt waren...“
Einfach und klar
Und dann das: „Aber innerlich fühlte ich mich erfrischt und klar, so als hätte ich bis jetzt im Brackwasser zwischen Entengrütze und Fischkadavern gelebt. Jetzt trank ich zum ersten Mal einfach nur klares Wasser...“
Das war im Jänner. Und keine vier Monate später zieht sich Max aus dem Konsumwahn und allem was ihn in der westlichen Gesellschaft ankotzt zurück, klinkt sich in Koran-Verteilungen ein, enge „Brüder“ sprechen davon, nach Syrien zu gehen... „und dann werde ich richtig kämpfen. Nicht nur si einen Stand machen, so einen Kinderkram“, lässt die Autorin einen Yusuf sagen.
„Ernste“ Übungen wie Sprengstoff an einen Hund binden, folgen und noch drei Monate später und Max und Adil wollen Anschläge in Zügen verüben... Der eine verhindert in letzter Sekunde seinen eigenen Anschlag, stirbt aber selbst, der andere überlebt. „Sie werden mir nicht vorwerfen, dass ich ein Mörder bin, wahrscheinlich nicht, aber vielleicht bin ich genau das, Adil ist tot. Er war mein Freund, denke ich. Vielleicht der einziger, der kapiert hat, dass alles, unser ganzes Leben, so krank ist wie die Kastanie im Innenhof. Der mich verstanden hat. und ich schaue in den trostlos nebligen Septemberhimmel, bis mir die Augen wehtun...“
Infos
Agnes Hammer
Nächster Halt Dschihad
156 Seiten, ab 14 J.
Verlag
Loewe
Taschenbuch: 6,20 €
eBook: 4,99€
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