Sexuelle Belästigung: Skandal um Star-Koch Christian Jürgens
Christian Jürgens gehört zu den bekanntesten Köchen Deutschlands: drei Michelin-Sterne, vier Hauben im Gault & Millau, zweimal Koch des Jahres. Jürgens kocht in seinem Drei-Sterne-Restaurant Überfahrt an vier Abenden die Woche und zu Sonntagmittag für ein kleines, wohlhabendes Publikum. Das Restaurant gehört zum gleichnamigen Seehotel in Rottach-Egern, das von der Althoff-Gruppe betrieben wird, einem Kölner Familienunternehmen mit mehreren Luxushotels.
Doch jetzt enthüllt eine monatelange Recherche des deutschen Nachrichtenmagazins Spiegel, dass in der Küche des deutsche Sternekochs, der selbst für Spitzenköche wie Heinz Winkler oder Eckart Witzigmann arbeitete, ein toxisches Arbeitsklima herrschen soll.
Laut dem Spiegel werfen rund zwei Dutzend ehemalige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Jürgens Machtmissbrauch, Schikanen und teils sexuelle Belästigung vor. Der Arbeitgeber soll Grenzen offenbar systematisch überschritten haben: Der Koch habe seine Angestellten als "Quotenschwarzer", "Arafat" und "Blasehase" bezeichnet oder die Toilettentür offen gelassen, während er pinkelnd mit Mitarbeiterinnen plaudern wollte.
Zur Dokumentation und als Beweise liegen dem Magazin Arbeitszeugnisse, Chatverläufe sowie eidesstattliche Erklärungen von den Betroffenen vor. Viele möchten anonym bleiben, da sie Angst vor Folgen in der Branche haben.
Griff zwischen die Beine
Unter jenen, die mit vollem Namen genannt werden, ist der österreichische Sommelier Marcel Ribis. 2020 wechselt der Fachmann vom Wiener Kempinski zu Jürgens: Der Österreicher erinnert sich, wie Jürgens eines Nachmittags an ihm vorbei geht und ihm von hinten in den Genitalbereich greift. Im Spiegel-Interview erzählt der 30-Jährige: "Es war total unerwartet." Er fühlte sich überfordert und habe verwirrt gesagt: "Ja, alles gut, Chef."
Ribis möchte nicht, dass die Branche generell verurteilt wird. "Ich habe geliebt, was ich in der Sternegastronomie gemacht habe". Deswegen sei es so wichtig, "über Fehlverhalten einflussreicher Küchenchefs zu sprechen". Noch heute spürt Ribis die Erniedrigungen: "Ich hatte bei Christian Jürgens die schlimmsten Monate meines Lebens." Solche Attacken seien im Überfahrt immer wieder passiert, er selbst habe sie mehrfach beobachtet.
Ehemalige Mitarbeiter beschreiben den Küchenchef als manipulativ, cholerisch, sexistisch sowie übergriffig. Wer Karriere machen will, müsse die Schikane und Brüllerei, die Grapscher und Klapse hinnehmen. Ein weiterer Koch, der anonym bleiben will, spricht ebenso von einem Griff zwischen die Beine.
Insgesamt berichten neun Betroffene dem Spiegel, dass Jürgens sie an den Po oder die Genitalien gefasst habe. Fast alle stufen die Attacken als Gesten der Macht sowie Machtmissbrauch ein, so der Spiegel. Die Befragten hatten den Eindruck, Jürgens habe vor allem diejenigen belästigt, die talentiert, ehrgeizig und ihm ergeben waren.
Der für Ribis finale Übergriff sei im Spätherbst 2016 im Gastraum passiert. Jürgens habe alle Servicemitarbeiter für eine Standpauke zusammengerufen. Am Ende habe Jürgens etwas gesagt wie: Und wenn ihr das nicht macht, dann kann ich auch anders. "Und dann dreht er sich zu mir um und, bäm, gibt mir eine Ohrfeige."
Heute schon Sex gehabt?
Die Berliner Sommeliere Maria Rehermann, heute 37, berichtet im Interview ebenfalls mit Klarnamen, was sie als junge Frau unter Jürgens erlebt habe. Die damals 16-Jährige musste körpernahe Begrüßungen durch ihren Chef ertragen: "Dann musste man hin und ihn umarmen, und dann wurde schon mal ordentlich zugelangt." Regelmäßig fragt er: "Na, Maria, heute schon Sex gehabt?" Einmal soll er sie im Raucherbereich unvermittelt angesprochen, ob sie mit ihm schlafen wolle. Rehermann lehnt ab.
Eines Tages steckt er ihr ein Stück Brot in den Ausschnitt - sie kann ihn nicht abwehren, weil sie eine schwere Kiste trägt und ihre Arme nicht frei sind. Eine ehemalige Vorgesetzte von Rehermann, die anonym bleiben möchte, hat ebenfalls sexistische Bemerkungen und übergriffige Umarmungen beobachtet, ebenso wie den Versuch, Brotstücke in Dekolletés zu stecken.
Eine weitere Mitarbeiterin berichtet davon, wie der Küchenchef ihren Brüste Namen gegeben haben soll, dass sie immer vor ihm die Stiege hochzugehen hatte und dass er auch einmal von hinten Sex an ihr simuliert haben soll.
Reaktionen und Sanktionen
Auf Spiegel-Anfrage teilen die Verantwortlichen des Hotels mit, dass es bereits vor vielen Jahren zu Beschwerden gekommen sei, daraufhin habe man den Koch zur Rede gestellt und ihn angewiesen, "seinen Pflichten als Vorgesetzter" nachzukommen. Jürgens habe "beleidigt" reagiert und die Kommunikation mit der Hoteldirektion "auf das beruflich Allernötigste" beschränkt.
Was sagt der Beschuldigte zu den konkreten Vorwürfen? Laut dem Nachrichtenmagazin geht Jürgens auf einen umfangreichen Fragenkatalog zu den einzelnen Vorwürfen nicht im Detail ein und weist über seine Anwältin die "schwerwiegenden Vorwürfe" als "unwahr" zurück. Die geschilderten Vorgänge hätten sich "zu keinem Zeitpunkt" ereignet. Jürgens könne sich auf "zahlreiche, glaubwürdige ehemalige und gegenwärtige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter berufen". Die Behauptungen seien rufschädigend und "geeignet, die berufliche Existenz" des Gastronomen zu zerstören.
Die Althoff-Gruppe sprach gegenüber dem Spiegel von "schockierenden Vorwürfen", die "im Detail geprüft und eindeutig aufgeklärt werden" müssten. Das Unternehmen verurteile "Übergriffe in der hier dargestellten oder ähnlichen Art" und habe daher eine renommierte Kanzlei mit der Untersuchung der Vorgänge beauftragt.
Am Freitag gab dann die Hotel-Gruppe auf Anfrage von Food Service.de bekannt: "Mit Wirkung vom 5. Mai 2023 haben wir daher entschieden, Christian Jürgens freizustellen. Die Anschuldigungen müssen im Detail geprüft und eindeutig aufgeklärt werden."
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