Gender Health Gap: „Frauen müssen sich mehr priorisieren“

Die Gesundheitsversorgung von Frauen unterscheidet sich bis heute deutlich von der der Männer – und das nicht zu ihren Gunsten. Der sogenannte Gender Health Gap beschreibt die geschlechtsspezifischen Unterschiede in der medizinischen Forschung, Diagnostik und Behandlung. Frauen erhalten oft schlechtere Diagnosen, weniger gezielte Therapien und sind in klinischen Studien unterrepräsentiert. Diese strukturellen Benachteiligungen haben weitreichende Folgen für ihre Lebenserwartung und Krankheitsverläufe.
Welche Ursachen und vor allem Lösungen es gibt, diskutierten vier Expertinnen beim KURIER Gesundheitstalk, eine gemeinsame Initiative von KURIER, MedUni Wien und Novartis. Mit dabei waren Alexandra Kautzky-Willer, Gendermedizinerin an der MedUni Wien, Kristina Hametner, Leiterin der Frauengesundheit der Stadt Wien, Naghme Kamaleyan-Schmied, Allgemeinmedizinerin und Obfrau der niedergelassenen Ärzt:innen der Ärztekammer Wien, sowie Anna Rab, Kardiologin und Leiterin der Inneren Medizin I mit Schwerpunkt Kardiologie am Kardinal Schwarzenberg Klinikum.
Gesundheitsmanagerin
Gründe für diesen Missstand gibt es viele. Frauen übernehmen häufig die Gesundheitsfürsorge in der Familie, vernachlässigen dabei aber sich selbst. „Frauen sind die Gesundheitsmanagerinnen im System, aber wir stehen auf der Prioritätenliste ganz hinten. Wir können uns aber nur dann erfolgreich um andere kümmern, wenn es uns gut geht“, betonte Kamaleyan-Schmied. Diese soziale Rolle führe dazu, dass Frauen seltener medizinische Hilfe für sich in Anspruch nehmen oder Symptome lange ignorieren. „Frauen leben zwar länger als Männer, verbringen aber mehr Jahre in schlechter Gesundheit. Schon ab der Pubertät treten häufiger Beschwerden wie Menstruationsprobleme, Depressionen, Essstörungen und Autoimmunerkrankungen auf“, erklärte Kautzky-Willer.
Ein zentrales Problem ist, dass der männliche Körper lange Zeit als medizinische Norm galt. Frauen werden in medizinischen Studien oft nicht ausreichend berücksichtigt, sodass Erkenntnisse über Medikamente und Behandlungen auf männlichen Körpern basieren. „Zuletzt wurde das Ergebnis einer Studie in eine Europäische Kardiologische Leitlinie aufgenommen, die für Männer und Frauen mit einem hohen Empfehlungsgrad zur Therapie rät. Dabei wurden aber nur 17% Frauen in der Studie untersucht. Da sind wir Frauen deutlich unterrepräsentiert“, sagte Rab. Dies hat zur Folge, dass Medikamente bei Frauen anders wirken oder sie stärkere Nebenwirkungen haben. Zwar würde sich dies verbessern, aber es sei noch immer ein langer Weg.
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Kein Forschungsinteresse
Hinzu kommt, dass bestimmte Frauenthemen wie Menstruation, Wechseljahre oder Endometriose, eine chronische, schmerzhafte Erkrankung der Gebärmutter, bis heute kaum erforscht wurden. „Endometriose bleibt oft über Jahre unerkannt. In Österreich dauert es im Schnitt sieben Jahre, bis zur Diagnose“, sagte Hametner. Auch Erkrankungen wie das Chronic Fatigue Syndrom, das vor allem Frauen betrifft, erhielten erst mehr Aufmerksamkeit, als vermehrt Männer betroffen waren. Als weiteres Problem wird mangelnde Glaubwürdigkeit angeführt. Viele Frauen erleben das sogenannte Medical Gaslighting – ihre Beschwerden werden verharmlost oder psychologisiert. Die Tendenz, Frauen als „hysterisch“ oder „psychosomatisch belastet“ abzustempeln, führt dazu, dass viele Erkrankungen zu spät erkannt werden. Damit die Gesundheitsversorgung von Frauen verbessert wird, muss also mehr Forschung zu geschlechtsspezifischen Unterschieden stattfinden. Kautzky-Willer betonte: „Wir brauchen Präzisionsmedizin für alle. Dafür müssen wir Diagnosen und Therapien passgenauer machen.“ Dies erfordert, dass Frauen gleichwertig in Studien vertreten sind und geschlechtsspezifische Unterschiede systematisch erforscht werden. Ein mittlerweile bekanntes Beispiel für solche Unterschiede ist der Herzinfarkt. „Dieser Druck auf der Brust, das brennende Gefühl, das in die Hände ausstrahlt – das sind typische Herzinfarkt-Symptome bei Männern. Frauen können diese Symptome ebenfalls erleben, doch bei ihnen ist das häufigste Anzeichen Übelkeit oder Erbrechen, gefolgt von Rückenschmerzen und Müdigkeit“, so Rab. Dieses fehlende Bewusstsein führt dazu, dass Herzinfarkte für Frauen tödlicher sind.
Wandel
Eine gendergerechte Medizin bedeutet auch, dass Vorsorgeuntersuchungen an die Bedürfnisse von Frauen angepasst werden.
Jedoch muss sich nicht nur die Medizin ändern, sondern die Gesellschaft. Frauen müssen ermutigt werden, ihre Gesundheit ernst zu nehmen und sich nicht abwimmeln zu lassen. „In unserer Gesellschaft bedeutet das Leben als Frau auch eine andere Last zu tragen - eine Krankheitslast oder aber auch Krankheiten zu haben, die leider falsch oder gar nicht diagnostiziert werden“, erklärte Hametner. Der gesellschaftliche Druck führt zu chronischem Stress, der wiederum das Risiko für Diabetes, Herzkrankheiten und psychische Erkrankungen erhöht. Daher brauche es eine Umverteilung der Care-Arbeit, andere Rollenbilder und eine gestärkte Gesundheitskompetenz unter Frauen, damit sie selbstbestimmte Entscheidungen treffen können, so Hametner weiter.
Der Gender Health Gap ist eine Realität, die Frauen tagtäglich betrifft. Die Diskussion zeigte deutlich, dass es dringend Veränderungen braucht. Mehr Forschung, bessere Vorsorge und gesellschaftliche Veränderungen können helfen, diesen Missstand zu beseitigen. „Die Medizin wird weiblicher, aber wir sind noch nicht am Ziel“, betonte Kamaleyan-Schmied. Erst wenn Frauen in der Medizin gleich behandelt werden, wird die Gesundheitsversorgung wirklich für alle gerechter.
Der KURIER Gesundheitstalk
Der KURIER Gesundheitstalk in Zusammenarbeit mit der MedUni Wien und Novartis, greift aktuelle Gesundheitsthemen auf und informiert über jüngste Forschungsergebnisse. Bei den Diskussionsveranstaltungen besprechen Expert*innen und Betroffene ein Thema und stehen für die Fragen zur Verfügung. Der nächste Talk findet am 5. Mai 2025 zum Thema Multiple Sklerose in Wien statt. Mehr dazu finden Sie hier.
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