"Zweite Chance": Überprüfung der eigenen Vorurteile

Ein Mann und eine Frau. Das Dach über ihren Köpfen ist eine luxuriöse Villa. Noch ein Mann und noch eine Frau – zwei Junkies, die in einer Bruchbude leben.
Aus dieser Konstellation hat die Oscar-Preisträgerin Susanne Bier ein Sozial-Drama gemacht, das zum Thriller wird, als sich die Wege der Paare kreuzen: Andreas (Coster-Waldau) ist Polizeikommissar und entdeckt bei einem Einsatz in der Wohnung der Junkies ein schreiendes Baby – im Kot liegend und vor Kälte zitternd. Als plötzlich das Baby des Kommissars stirbt, ist seine Frau Anna (Maria Bonnevie) dem Selbstmord nahe. In seiner Verzweiflung stiehlt Andreas den Säugling der Junkies und lässt das eigene tote Kind in deren Wohnung zurück.
Die immer komplizierter werdende Handlung schrammt oft haarscharf am Sozialkitsch vorbei, lässt man sich aber darauf ein, wird der Film zur Versuchsanordnung, die uns mit unserer Doppelmoral konfrontiert: Auch wenn wir es uns nicht eingestehen wollen, unsere (Vor-)Urteile über Menschen hängen oft von deren Aussehen ab. Steht der fesche Vater, dessen Wunschkind gestorben ist, moralisch höher als der Junkie, der Frau und Kind bedroht? Ist es gut, wenn ein drogensüchtiges Paar sein Baby verwahrlosen lässt? Mit Sicherheit nein! Ist es gut, wenn der Kommissar den Junkies das hilflose Kind wegnimmt? Fast ist man geneigt, diese Frage mit "ja" zu beantworten. Solche Gedankenexperimente spielt der Film mit immer neuen Wendungen durch. Ein exzellent gespielter Sozial-Krimi, in dem es nicht um die Frage geht: Wer ist der Täter, sondern: wer soll die "Zweite Chance" bekommen?
Text: Gabriele Flossmann.
INFO: Zweite Chance. DK 2015. 102 Min. Von Susanne Bier. Mit Nikolaj Coster-Waldau, Marie Bonnevie.
KURIER-Wertung:
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