Fotograf Wolfgang Tillmans: „Zum Bildermachen verdammt“

Ein Mann steht vor einem Poster mit einer Aufnahme der Milchstraße.
Der Star der Fotokunst, mit einer Schau im mumok präsent, über Handyfotos, Störgeräusche in Bildern, die 1990er und sein Engagement für die offene Gesellschaft

Manchmal, sagt Wolfgang Tillmans, fotografiere auch er ein schön angerichtetes Essen mit dem Handy, einfach so.

Mit dem künstlerischen Werk, das er seit nunmehr 35 Jahren entwickelt, habe das aber nichts zu tun: „Ich habe das Leben immer aus meiner Perspektive gesehen und übersetzt, um über das Leben an sich zu sprechen – und nicht nur über mein eigenes Leben, wie das die Instagram-Perspektive heute macht. Dass diese subjektive Sicht plötzlich zur absoluten Zentralperspektive wird, hätte ich mir nie träumen lassen.“

Ein gelbe Vase mit Blumenmuster steht neben Muscheln, einer Avocado und einer Tomate.

Zeitgeist im Bild

Tillmans, 1968 im deutschen Remscheid geboren und vorrangig in London zuhause, wurde ab den frühen 1990ern als Chronist des Zeitgeists bekannt – mit Dokumenten der Techno-Kultur, unkonventionellen Fotostrecken und Popstar-Porträts in Magazinen wie i-D oder Spex stand er stets mit einem Fuß außerhalb des Kunstbetriebs.

Die scheinbare Spontaneität vieler Aufnahmen war dabei aber stets nur eines von vielen möglichen Registern seiner Kunst. „In Wirklichkeit gibt es ganz viele Grade, wo ich Einfluss genommen habe“, sagt Tillmans beim Gang durch seine Schau im Wiener mumok. „Ich tat das bewusst, um die Wahrnehmung von Fotografie zu schärfen und zu sagen, dass man einem Bild sehr wohl vertrauen kann, wenn man hinterfragt, was man genau sieht und wie es dazu gekommen ist.“

Ein unordentlicher Flur mit leeren Flaschen, Müll und einem Lautsprecher.

Die Ausstellung in Wien, die im Vorfeld einer Tillmans-Retrospektive im New Yorker Museum of Modern Art stattfindet, führt die Vielgestaltigkeit im Werk des Fotografen exemplarisch vor: Nicht nur zwischen verschiedenen Motiven und Aufnahmezeiträumen gilt es hin und her zu springen, auch zwischen diversen Formaten, Graden der Perfektion, Abstraktion und Materialbeschaffenheit.

„Die Ausstellung ist ein Dialog von verschiedenen Bildqualitäten“, sagt Tillmans und weist auf ein Werk von 1987, für das er das Foto eines Sonnenuntergangs mit einem damals hochmodernen Laserkopierer vergrößerte. „Das ging nicht ohne Streifen und Linien, die da wie Geräusch ins Bild gemischt wurden.“
 

Der Schatten eines Kopfes hinter einer blauen, gewellten Oberfläche.

Das Interesse an der Störung hielt sich: Der Abrieb einer Verschmutzung der Entwicklermaschine, eine im Papierstau abgeblätterte Fotoemulsion wurden bei Tillmans bildwürdig, manchmal ergibt zerknülltes Fotopapier schon ein Werk. „Es geht immer ums Bewusstsein, dass die scheinbare Tiefe von Fotografie nur hauchdünn an der Oberfläche sitzt“, sagt er.

Eigenheiten digitaler Bilder – Verpixelungen, Verzerrungen – haben bisher aber kaum Eingang in Tillmans’ Werk gefunden. „Es ist nicht untypisch, dass mein Bild zur Videotelefonie von der Klarheit der Bilder spricht“, sagt er. Besagtes Foto (oben) kombiniert zwei „Glaskörper“ – ein Handydisplay und die Wasserflasche – mit einem Selbstporträt. „Wenn man eine Ahnung hat, was es bedeutete, in den 1990ern zehn Megabyte zu transportieren, ist es ja völlig verrückt, was so ein Telefon heute macht.“

Ein Smartphone, gestützt von einer Wasserflasche, zeigt ein Videotelefonat mit einem Schlafzimmer im Hintergrund.

Generell sieht der Künstler die Omnipräsenz von Handys aber zweischneidig. „Milliarden Menschen sind dazu verdammt, Bilder zu machen, ohne dass es begleitet wird von mehr Bildkompetenz“, sagt er. „Auf der anderen Seite ist der Umstand, dass etwa der Mord an George Floyd nicht vertuscht werden konnte (und die „Black Lives Matter“-Proteste auslöste, Anm.), das Resultat davon.“

Gegen den Populismus

Tillmans äußert sich selbst öfters politisch – so gestaltete er 2016 eine Anti-Brexit-Kampagne in Großbritannien und 2017 eine Plakatserie für mehr Beteiligung an der deutschen Bundestagswahl. Seine Sozialisierung in den 1990ern, erzählt er, sei die Grundlage dafür: „Ich verbinde die Neunziger mit einem Gefühl von paneuropäischem Aufbruch. Ein Interesse füreinander, die Möglichkeit zu reisen, das Ende von Ost und West – das war für mich ein fassbares Gefühl.“

Eine Gruppe von Menschen sitzt in einem schwach beleuchteten Raum mit Spiegeln.

Als in seiner Wahlheimat die Brexit-Kampagne Fahrt aufnahm, „war eine Schwelle überschritten, weil es sich wie Notwehr anfühlte“, erklärt er. „Mein Lebensmodell sah ich unter direktem Beschuss, einhergehend mit dem Erstarken des Rechtspopulismus und dem Bewusstsein dafür, dass die freie Gesellschaft, die ich genieße, eine sehr fragile ist. Für mich ist klar, dass ich einen großen Teil meiner Energie dafür einsetzen will, dass diese pluralistische, offene Gesellschaft bestehen bleibt. Denn bei aller Kritik, die man an der EU, am Kapitalismus und an Europa haben kann – es ist ein Leuchtfeuer in der Welt.“

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