Wiener Festwochen: Die Bourgeoise ist tot, es lebe die Auslöschung

„Auslöschung“ von Thomas Bernhard: Rosa Lembeck, die Worte abwägend, bewältigt die Textmasse mit Bravour
Der französische Regisseur Julien Gosselin schreibt in seinem gut fünfstündigen Triptychon „Extinction“, Anfang Juni in Montpellier uraufgeführt, das Jahr 1983.
Thomas Bernhard war damals mit seinem Roman „Auslöschung“ so gut wie fertig: Franz-Josef Murau rechnet in einem inneren Monolog wortgewaltig mit Österreich, Wolfsegg und seiner Familie ab. Er hatte eben erfahren, dass seine verhassten Nazi-Eltern und sein größerer Bruder verunfallt sind.
Ort der Handlung von „Extinction“ ist, wie wir erfahren, Rom. Dort verbrannte Ingeborg Bachmann 1970. Und dorthin war Murau vor den Barbaren geflüchtet. Bei Gosselin schlüpft Rosa Lembeck in die Rolle des Murau – und rekapituliert das verstörende Leben in Wolfsegg als Form von Trauerarbeit. Und zwar in einem quasi öffentlichen Akt auf der Universität.
„Naturgemäß“ kommt in dieser Stunde nur ein Bruchteil des Romans zur Sprache. In der verdichteten Form ist „Auslöschung“ aber enorm. Und Lembeck, die Worte abwägend, bewältigt die Textmasse mit Bravour.
Gebannt hört man ihr beim Festwochen-Gastspiel in der Halle E zu. Ihr ist zu verdanken, dass die verbliebenen Besucher (die Drop-out-Quote lag bei 50 Prozent) kurz nach Mitternacht begeistert jubelten.
Die „Auslöschung“ hatte sich bereits im ersten Bild angekündigt: bei einem düsteren Clubbing mit viel Nebel und cooler Videoästhetik – Guillaume Bachalé und Maxence Vandevelde produzieren Technomusik, die es sicher nicht im Juni 1983 gegeben hat – wird der Blick in Close-ups allmählich auf Rosa und deren Kollegin Victoria Quesnel gelenkt. Rosa erwähnt Bachmann – und soll sich dringend bei den Schwestern in Wolfsegg melden.
Kosmische Katastrophe
Das die Gedanken auslöschende Rave dauert eine Dreiviertelstunde, dann 30 Minuten Pause. Rosa sitzt nun auf der Tribüne und schaut sich einen in Echtzeit produzierten SW-„Film“ an, der an „Der diskrete Charme der Bourgeoisie“ von Luis Buñuel erinnert: gesampelt aus der „Komödie der Verführung“ sowie den Prosawerken „Fräulein Else“ (beide aus 1924) und „Traumnovelle“ (1925) von Arthur Schnitzler.
Verortet wird die großbürgerliche Party mit Sex und Gewalt in einer Wiener Jugendstilvilla im Juni 1913. Gosselin beugt die Vorlagen, um „eine Gesellschaft, die noch nicht weiß, dass sie bereits tot ist, auf eine kosmische Katastrophe treffen“ zu lassen. In der Koproduktion seiner Kompagnie mit der Volksbühne Berlin reden die einen sehr deutsch, die anderen französisch. Das ist mit der Zeit lähmend, besonders nervt die exaltierte Darbietung des Chandos-Briefs von Hugo von Hofmannsthal.
Das Erdbeben-Finale gerät unerträglich plump. Rosa besucht danach Victoria in der Garderobe. Sie kann mit der „Show“ nicht viel anfangen. Dann muss sie auf die Uni – und wendet sich mit ihrem Monolog samt Bachmann-Zitat an Victoria ...
Noch heute, 13. Juni, um 19 Uhr
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