"... hört der Hass beinahe auf"

Der Autor, geboren 1875 in Wien, gestorben 1962 in New York, war einer der berühmtesten Geigenvirtuosen aller Zeiten. Was in Österreich kaum jemand weiß: Fritz Kreisler rückte 1914 nach der Kriegserklärung Österreich-Ungarns freiwillig als Reserveoffizier ein und wurde im Kampf gegen Russland schwer verwundet.
Sechs Monate später verfasste er ein zutiefst berührendes Buch über den Kriegsalltag und die psychischen Veränderungen an der Front. 1915 erschien es auf Englisch unter dem Titel "Four Weeks in the Trenches" – bis heute eine der eindrucksvollsten Schilderungen abseits jeder Heroisierung.
Zum ersten Mal erscheint das Buch nun auf Deutsch: "Trotz des Tosens der Kanone" (Braumüller Verlag). Ex-Philharmonikervorstand Clemens Hellsberg und Zeithistoriker Oliver Rathkolb, die beiden Herausgeber, präsentieren es kommende Woche. Hier ein Vorabdruck einiger Passagen.
Die Verluste, die mein Bataillon an jenem Tag erlitt, schienen außerordentlich gering, bedenkt man die Treffsicherheit der russischen Artillerie und die Menge der abgefeuerten Geschoße; ich zählte 74 Schrapnells, die in ungefähr zwei Stunden in einem Umkreis von etwa 700 Metern um uns herum detonierten, dennoch hatten wir nicht mehr als etwa achtzehn Tote. Das Schwierigste war, still und bewegungslos dazuliegen, während der Tod rundherum seine Ernte hielt, und hier erlebte ich ihn auch zum ersten Mal in nächster Nähe.
Ein Soldat aus meiner Einheit grub gerade im Schützengraben, als er sich plötzlich zurücklehnte, wie ein alter Mann zu hüsteln begann, ein wenig Blut trat auf seine Lippen, er sackte zusammen und lag dann still. Ich konnte nicht fassen, dass dies das Ende war, denn seine Augen standen weit offen, und sein Gesicht trug den Ausdruck vollkommener Gelassenheit.

Es ist außerordentlich, wie schnell Vorstellungen von Luxus, Kultur, Verfeinerung, kurz, all die sanfteren Aspekte des Lebens, die man als wesentlichen Bestandteil der eigenen Existenz betrachtete, vergessen sind, ja, mehr als das, gar nicht vermisst werden. Jahrhunderte fallen ab, man wird ein Vorzeitmensch und nähert sich in unglaublich kurzer Zeit dem Höhlenbewohner. Einundzwanzig Tage lang legte ich meine Kleidung nicht ab, schlief auf nassem Gras oder auf Schlamm oder im Sumpf, wenn es sein musste, mit nichts als meinem Umhang als Decke. Nichts wird als störend empfunden.
Eines Nachts wurden wir im Schlaf von sturzbachartigen Regengüssen bis auf die Haut durchnässt. Wir rührten uns nicht, sondern warteten auf die Sonne, um uns wieder zu trocknen. Kurz, die Notwendigkeiten der Zivilisation verschwinden einfach. Eine Zahnbürste war unvorstellbar. Wenn wir Nahrung hatten, aßen wir instinktiv mit den Händen. Hätten wir innegehalten, um überhaupt darüber nachzudenken, hätten wir es lachhaft gefunden, Messer und Gabel zu benutzen.
Wegen der Notwendigkeit, mit so gut wie nichts auskommen zu müssen, sahen wir alle aus wie zottelige, magere Wölfe. Ich erinnere mich, einmal drei Tage hintereinander ohne irgendwelche Nahrung ausgekommen zu sein, und so manches Mal mussten wir den Tau vom Gras lecken, um Wasser zu haben. Da erwacht eine gewisse Wildheit im Menschen, eine absolute Gleichgültigkeit gegenüber allem in der Welt außer der Pflicht zu kämpfen. Du isst ein Stück Brot, und im Schützengraben neben dir wird ein Mann erschossen. Einen Augenblick lang betrachtest du ihn ruhig, dann isst du weiter dein Brot. Warum nicht? Da kann man nichts machen. Am Ende redest du über deinen eigenen Tod mit so wenig Erregung wie über eine Verabredung zum Mittagessen. In deinem Geist ist nichts mehr außer der Tatsache, dass Horden von Menschen, zu denen du gehörst, gegen andere Horden kämpfen und dass deine Seite gewinnen muss.
Es waren die ersten Septembertage, und als wir die Sümpfe von Gródek, südlich von Lemberg (heute Lwiw in der Ukraine, Anm.) erreichten, entschied unser kommandierender General, hier entschlossen auszuharren. Es schien der günstigste Ort für eine nachhaltige Verteidigung, da durch die ansonsten unpassierbaren Sümpfe nur wenige Straßen führten.
Am 6. September erhielt mein Bataillon den Befehl, eine Position zu beziehen, die einen Hohlweg beherrschte, einen der möglichen Anmarschwege des Feindes. Hier erwarteten wir die Russen, und sie ließen auch nicht lange auf sich warten. Zunächst bombardierten sie uns heftig und brachten eine unserer Batterien zum Schweigen. Als ihr Artilleriefeuer auf unserer Seite keine Reaktion hervorrief, versuchten sie mittels frontaler Infanterieattacken im Verein mit gelegentlichen Überfällen von Kosaken, die immer zurückgeschlagen wurden, unsere Stellung zu stürmen. Schließlich gelang es der russischen Infanterie, eine Reihe von Schützengräben anzulegen, derjenige uns gegenüber war keine fünfhundert Meter entfernt. Es war das erste Mal, dass wir in nahe Berührung mit den Russen kamen, beinahe in Rufweite, und mithilfe unserer Feldstecher konnten wir gelegentlich sogar einen Blick auf ihre Gesichter erhaschen und ihre Züge erkennen. Wir lagen einander vier Tage lang gegenüber, wobei keine Seite auch nur einen Meter an Boden gewann.
Es war dort und damals, dass ich eine sonderbare Beobachtung machte. Nach dem zweiten Tag kannten wir uns beinahe schon. Die Russen riefen uns lachend etwas zu, die Österreicher antworteten. Das hervorstechende Merkmal dieses dreitägigen Kampfes war der außerordentliche Mangel an Hass. Es ist tatsächlich erstaunlich, wie wenig wirklicher Hass zwischen kämpfenden Männern herrscht. Man kämpft wild und leidenschaftlich, Masse gegen Masse, aber sobald die Masse sich in menschliche Individuen kristallisiert, deren Gesichtszüge man sogar erkennen kann, hört der Hass beinahe auf. Natürlich geht der Kampf weiter, aber irgendwie verliert er an Erbitterung und nimmt mehr den Charakter eines Sports an, wobei jede Seite eifrig bestrebt ist, die andere zu übertrumpfen. Man schießt immer noch auf den Gegner, bedauert es aber beinahe, wenn man ihn fallen sieht.
Bald waren wir ganz ohne Nahrung oder Wasser, und unsere Munition ging zu Ende. Während der Nacht rannten wagemutige Männer dort und da durch die vom ständig aufrechterhaltenen russischen Feuer bestrichene Gegend und versuchten, uns die wenigen spärlichen Vorräte zu bringen, die sie aus besser bestückten benachbarten Schützengräben herbeiholen konnten, aber das bisschen, das sie brachten, war angesichts unserer Bedürfnisse gar nichts.
Am Abend dieses dritten Tages, im Wissen, dass wir bald keine Munition mehr haben würden, spürten wir, dass der nächste Tag das Ende bringen würde, und alle unsere Gedanken richteten sich heimwärts und zu unseren Lieben. Wir schrieben alle, was wir für unseren Abschiedsbrief und ein letztes Lebewohl hielten, und jeder verpflichtete sich, falls er überlebte, auf die Briefe der anderen achtzugeben und sie abzuliefern. Es war ein trauriger, ernster, zutiefst berührender Moment, als wir uns in das Unabänderliche ergaben, und doch fühlten wir uns alle irgendwie erleichtert und befriedigt, dass vielleicht das Ende kam, und waren wild entschlossen, unser Leben teuer zu verkaufen.
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