Ursula Krechel, Archivarin des Verdrängten

Ursula Krechel, Archivarin des Verdrängten
Der dritte große Roman der deutschen Buchpreis-Siegerin erzählt von zehn Flaschen Wein für "Entschädigungswürdige".

ie gilt als eine Archivarin des Verdrängten, den Blick ins Trostlose gerichtet
 Das war so im Roman „Shanghai fern von wo“ über Juden, denen die Flucht in asiatische Schlupflöcher geglückt war ... „Nach Schanghai“ (sagt einer).
„Was? So weit?“
„Weit von wo?“
Und in „Landgericht“, ausgezeichnet mit dem Deutschen Buchpreis 2012, kehren Kirchenglocken zurück, die  nicht für den Krieg eingeschmolzen wurden.
Die Leute jubeln.
Ein vertriebener jüdischer Richter kehrt ebenfalls zurück. Er möchte wieder arbeiten.  Freut sich jemand?

Gerupft

Jetzt lässt uns Ursula Krechel in die „Geisterbahn“ einsteigen. Ein Wort, das für die Schausteller steht.
Andererseits passend fürs „Dritte Reich“ und danach.
Die Opfer, die das KZ überlebten und in ihre Heimatstadt Trier zurückkehrten – die Geburtsstadt Krechels –, bekamen (sofern „entschädigungswürdig“): 100 Mark ... plus zehn Flaschen Wein, die sie umtauschen durften gegen Schuhe oder ein Bett.
„Geisterbahn“ ist die Geschichte der Sinti-Familie Dorn mit zehn Kindern.  die in Trier lebte und arbeitete.
Dass sie auf Jahrmärkten für Unterhaltung sorgten: sehr erwünscht. Dass sie musizierten, „Zigeunermusik“: wunderbar.
Aber die Menschen dahinter  grenzt(e) man aus. Mit einem Mal durften sie, die Deutschen, keine „Deutschblütigen“ heiraten; und zwangssterilisiert wurden die Frauen; und beschlagnahmt wurde ihr Besitz inkl. Kinderbadewanne ...
Krechels Romane bevölkern „gefundene Figuren“ – in Akten gefundene. Sie baut Denkmäler wie  Erich Hackl („Am Seil“), macht aber viel mehr noch dazu. Diesmal hat sie zu weit ausgeholt, bis zum Dirigenten Furtwängler müsste diese Geisterbahn nicht fahren.
Sie legt mehr Gewicht auf die Sprache. Doch gelingen die besten Bilder, wenn sie sich aufs Dokumentieren beschränkt:
Etwa wenn  politische Gefangene Gänse rupfen müssen, lebende Gänse, jede ausgerissene Feder eine offene Wunde, die großen Wunden werden danach mit Zwirn genäht. Vier Mal im Jahr werden die Gänse gequält, nackt gemacht, verletzt, getötet.
Gerupfte Gänse, gerupfte Menschen. In der Volksschule sitzen nach 1945 der Sohn eines Nazi, die Tochter eines „Kummerl“ und ein Sinti-Mädchen nebeneinander.
Trier ist sehr katholisch. Zum Kind, das nicht in die Kirche geht, sagt der Pfarrer: „Wer keine Religion hat, hat auch kein Gewissen.“
Wer Religion hat, kann durchaus als Mensch daneben liegen.


Ursula
Krechel:

„Geisterbahn“
Verlag Jung und Jung.
650 Seiten.
32 Euro.

KURIER-Wertung: ****

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