Übermalt wird Selbst und Welt: Arnulf Rainer in der Albertina

Ein Mann liegt auf dem Rücken und bedeckt sein Gesicht mit den Händen.
Eine Retrospektive zum 85. Geburtstag von Arnulf Rainer zeigt sein großes Oeuvre.

Ein Kopf wilder Wuschelhaare, ein Dreitagebart, das Gesicht zur Grimasse verzerrt. Das alles als Schwarz-Weiß-Foto abgebildet und ziemlich sicher halb verborgen hinter ungestümen Farbschlieren in Rot, leuchtendem Gelb, und Schwarz.

So kennt man Arnulf Rainer, so zeigte er sich in den 70er-Jahren in den "Face Farces" und "Body Poses", jener Werkgruppe, bei denen er fotografische Selbstdarstellungen mit Ölfarben, Ölkreiden oder Kohle bearbeitete, ergänzte, übermalte.

Heute – gut 40 Jahre später – trägt Rainer das ergraute Haar kürzer, den Bart länger. An seinem 85. Geburtstag, den er Ende dieses Jahres feiert, wird er auf über sechs Jahrzehnte künstlerischer Produktion zurückblicken.

Bevor Rainer das eigene Gesicht für Übermalungszwecke entdeckte, gab es bereits monumentale, monochrome Übermalungen, wo die spätere Farbe die frühere fast gänzlich verschluckt, und nur vereinzelt ein "edles Eck" oder einen "großen Seitenrest" stehen lässt.

Es gab Grafiken auf Papier und transparentem Kunststoff, die zwischen Abstraktion und Figuration oszillieren.

Es gab Formstudien namens "Proportionen", die horizontale und vertikale Balken in allen Farben und Dimensionen anordnen, auf der Suche nach kompositorischen Gesetzmäßigkeiten.

Danach gab es weitere Auseinandersetzungen mit dem menschlichen Gesicht – Übermalungen von grotesken Messerschmidt-Gesichtern, düstere Umspinnungen von Van-Gogh-Selbstporträts und Totenmasken.

Es gab die Abarbeitung am Kreuz, jener symbolisch wie auch formal gewichtigen Form, die Rainer als Motiv und Malgrund dient.

Und es gab die "Serie Geologica"-Bilder, mit denen sich Rainer in den 90er-Jahren einem breiteren Farbspektrum öffnet und in denen sich Farbbalken – durchscheinenden Gesteinsschichten gleich – übereinander legen.

Impressionen der Ausstellung

Ein Gemälde einer Person mit dunklen Haaren und starkem Make-up.

Ein abstraktes Gemälde einer menschlichen Figur in Schwarz-, Grau- und Gelbtönen.

Ein Gemälde einer liegenden, verletzlichen Figur mit expressionistischen Elementen.

Ein Gemälde mit einem liegenden Mann, umgeben von abstrakten Farbspritzern.

Ein Aktgemälde eines Mannes mit Bart, überlagert mit abstrakten Farbakzenten.

Ein Porträt mit Farbe übermalt, die Augen geschlossen.

Abstrakte Malerei mit grünen, rosa und braunen Farbtönen.

Ein abstraktes Gemälde mit einem großen, braunen Farbfleck auf weißem Grund.

Ein blaues Kreuz mit gelben Akzenten auf weißem Hintergrund.

Ein abstraktes Gemälde in Kreuzform mit blauen, braunen und roten Farbtönen.

Pessimistisch

Dass die Kuratoren Hoerschelmann und Friedel angesichts der Vielfalt der rund 140 ausgewählten Werke auf eine rein chronologische Anordnung verzichten, ist eine Entscheidung zugunsten einer einheitlichen Aussage.

Der Weg zwischen betonfarbenen Stellwänden durch Rainers Laufbahn sucht erst gar nicht nach einer linearen Entwicklung. Gern springt man zugunsten thematischer Verknotungen nach vorn oder macht einen Schritt zurück und findet dabei die Spuren einer andauernden Auseinandersetzung mit universellen künstlerischen und existenziellen Grundfragen – die Identität des Menschen, der Ursprung der Kunst – die immer neue Formen annimmt. So erscheinen Rainers Arbeiten als öffentlicher Ausdruck eines inneren Dialoges, der oft zu einem Streitgespräch anschwillt. Eine pessimistische Welt- und Selbstsicht und die schiere Unlösbarkeit der großen Fragen scheint fast immer zu dominieren.

Harmoniesehnsucht

In den neuesten Arbeiten kommt eine Sehnsucht nach Harmonie, ein ungewohnter Hang zur Schönlinigkeit zum Ausdruck. Doch nur sechs nach 2000 entstandene Werke sind zu sehen, und sie haben nicht das letzte Wort.

Ganz am Schluss steht noch ein Zeitsprung in die 80er-Jahre – mit Übermalungen des verwüsteten Hiroshima endet die Ausstellung in einer aufwühlenden, apokalyptischen Vision. Die Probleme, die Rainer in seiner Kunst seit 60 Jahren wälzt, werden noch nicht ad acta gelegt.

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