Tiktok will jetzt auch Bücher verlegen: Markteintritt eines Riesen

Am lukrativsten ist die digitale Welt dort, wo sie bestehende Geschäftsmodelle kapert: Social Media saugen die Werbeeinnahmen der bisherigen Medien ab, Airbnb manches Geld, das sonst in Hotels geflossen wäre, Uber konkurrenziert mit dem Taxibusiness (außer in Österreich). Dass aber ausgerechnet eine chinesische Plattform für Kurzvideos, auf der hauptsächlich Teenager tanzen und Trends folgen, die Buchbranche durcheinanderwirbeln würde, war nicht abzusehen.
Es ist aber so: Längst ist Tiktok ein großer Faktor am Buchmarkt. Und nun macht dieser Social-Media-Gigant den Verlagen direkt Konkurrenz.
Auf der Plattform tauschen sich Leserinnen (vorwiegend) und Leser über bewegende Leseerfahrungen aus. Das nennt sich „Booktok“ und schafft etwas, das viele Eltern und Pädagogen händeringend und großflächig erfolglos versuchen: Es bringt junge Menschen zum Lesen, und nicht nur aus Pflichtgefühl oder auf Auftrag, sondern mit Freude.
Wie wichtig Booktok ist, zeigen allein die ungewöhnlichen Zahlen: Einer der größten Hits, Colleen Hoovers „Nur noch einmal und für immer“, stand 2022 auf Platz zwei der Bestseller-Charts in Österreich. Und dann noch einmal auf Platz vier – in der englischen Originalversion. Von Letzterer wurden bis Jahresende 2022 mehr als 15.000 Exemplare verkauft – eine immense Zahl.

Das alles, denkt man sich, nützt wohl den Verlagen und dem Buchhandel, der längst eigene Präsentationstische für Tiktok-Lektüre aufstellt. Die Realität ist jedoch nuancenreicher.
Und wird nun noch komplizierter. Denn der Eigentümer von Tiktok, Bytedance, nützt den Erfolg von Booktok zu einem Schritt, der Verlage in den USA beunruhigt: Bytedance will selbst ins Verlegergeschäft einsteigen und so den etablierten Playern Konkurrenz machen, berichtet die New York Times. Das könnte ein Erdbeben werden.
Denn, so fürchten die Verlage: Bytedance könnte die bereits etablierte Marktmacht im Buchbereich zu eigenen Gunsten nützen. Was, wenn auf Tiktok dann jene Videos bevorzugt werden, die hauseigene Bücher positiv besprechen? Und andere Videos mit Konkurrenzbüchern weniger Reichweite bekommen?
Was auch, wenn die Plattform beginnt, lukrative Autorinnen und Autoren unter Vertrag zu nehmen – und den anderen Verlagen, die ungleich weniger Geld haben, abwirbt? Was heißt das auch für das, was gelesen wird? Denn auf Booktok gibt es bevorzugte Genres und Leseerlebnisse.
Nachgelesen. Wenn man nicht aufpasst, wird jedes Vorurteil erfüllt. Denn was wird das schon sein, das die Nutzer einer Videoplattform für gute Literatur halten? Sicher Liebesdrama, Young-Adult-Eindimensionalität und Kitsch, denkt man.
All das ist, zugegeben, Teil eines der größten Hits auf Booktok: Colleen Hoovers Bestseller „Nur noch einmal und für immer“ ist die Art Buch, bei dem Eltern und Lehrer mit zusammengebissenen Zähnen so etwas hervorpressen wie „Hauptsache, die Kinder lesen überhaupt“.
Man ist beim Nachlesen aber unsicher, ob das stimmt. Es geht um eine junge Frau, Lily Bloom, die namensadäquat einen Blumenladen hat und zwischen zwei Männern steht: Der eine taucht genau dann wieder auf, als der andere in der Beziehung gewalttätig wird. Das hat die junge Lily (es gibt Rückblenden) bei ihren Eltern schon traumatisiert, und wenn sie nicht mehr weiter weiß, schreibt sie Briefe an Moderatorin Ellen DeGeneres.
So weit, so gut, nicht alles muss originell sein.
Aber „It Ends With Us“ (so der Originaltitel) leistet dem Lesen einen Bärendienst: Die ganze Story ist eine fast offensiv platte Attrappenschieberei, eine Verengung dessen, was Literatur eigentlich sein könnte: Alles wird ausbuchstabiert, jede Wendung mit der Brechstange vorbereitet, das Buch leidet an fataler Erklär- und Beschreibungssucht.
Wer sich beim Lesen in Fantasie schulen will, ist hier grundfalsch. Aber es ist ein Riesenerfolg, der mit Blake Lively als Hauptdarstellerin verfilmt wird, das Nachfolgebuch („It Starts With Us“) ist auch schon da. Und nein, nicht alles ist so trübe, was auf Booktok ein Hit wird: Hochkomplex, toll geschrieben und lesenswert ist R. F. Kuangs „Babel“ rund um zaubernde Oxford-Übersetzer (klingt schräger, als es ist, ähnlich im Genre ist „The Atlas Six“ von Olivie Blake). Es gibt Neuschreibungen von griechischen Klassikern („The Song Of Achilles“ und „Circe“ von Madeline Miller). Und der hochtalentierte Ocean Vuong landete mit „Time Is a Mother“ zu Recht einen Hit.
Was Bytedance mit dem Markteintritt vorhat, ist noch unklar, berichtet auch die New York Times. Es soll eine Plattform entstehen, auf der man Bücher entdecken, besprechen, lesen und, natürlich, kaufen kann. Ob es die Bücher des Tiktok-Verlags – er soll 8th Note Press heißen – im regulären Buchhandel zu kaufen geben wird und vieles andere, ist noch nicht bekannt. Erste Vertragsangebote an Autorinnen waren alles andere als spektakulär, geboten wurden nur wenige Tausend Euro für die Rechte an Romanen.
Eine Anfrage des KURIER zu Details und auch zur Frage, ob es einen dezidierten Eintritt in den deutschsprachigen Markt geben wird, blieb unbeantwortet.
Viele Bücher
Klar ist aber: Tiktok verkauft bereits jetzt viele Bücher – aber von anderen Verlagen. Booktok bietet eine erfolgreiche Möglichkeit, Bücher online zu entdecken, andere Plattformen, die sich dezidiert dem Lesen widmen, sind weit weniger zugänglich. Die Zahlen sind, im Prinzip, Balsam auf der Seele all jener, die den Niedergang des Lesens befürchten: 91 Milliarden Mal wurden im Vorjahr Tiktok-Videos mit dem Hashtag #BookTok angesehen.
Von wegen: Lesen ist tot. Es ist, manchmal, sogar viral. Aber diese Viralität ist auch in anderen Bereichen mit Bedingungen versehen: Um Social-Media-tauglich zu sein, müssen Bücher rasch emotionalisieren. Deutschsprachige Literatur wird sich dabei sehr schwertun. Und das sind wieder keine guten Aussichten.
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