Talentshows im TV sind zum Weinen
Der Unterschied ist schnell erklärt: Im
ORF singen pummelige Mädchen "Hallelujah". Bei RTL spielen Männer mit steifem Penis Klavier. Für eindeutig geschmackloser würde man Letzteres halten. Für braver und fader die ORF-Show...
Hätte nicht bei der "Großen Chance" am Freitagabend ein Mann mit Mundharmonika ein "altes Volkslied" gespielt. Das hatte unüberhörbar frappante Ähnlichkeit mit dem Horst- Wessel-Lied - einst Kampflied der SA, das später zur Parteihymne der NSDAP wurde.
Ein gravierender redaktioneller Fehler, der im ORF bei der aufgezeichneten Show zuvor keinem Verantwortlichen aufgefallen war. Das Lied sei "durchgerutscht", hieß es nach der Sendung kleinlaut. Und man prüfe nun die Rechtslage, um allenfalls Schritte einzuleiten.
Der Kandidat hatte erklärt, ein altes Seemannslied zu spielen: "Es wollt' ein Mann in seine Heimat reisen". Erst nachdem sich zahlreiche Seher beschwert hatten, fiel auf, womit das "Liedchen auf der Mundharmonika" da so deutliche Ähnlichkeit hatte. Und man reagierte. Schon in der Nachtwiederholung der Show in ORFeins war von der Mundharmonika-Einlage nicht mehr zu erleben. Und auch auf der TVthek ist nichts mehr von dem Auftritt zu sehen. Übrigens, der 68-Jährige hatte von allen Juroren ein Rotlicht bekommen. So geschmackssicher war man dann doch.
Am Tag danach tat man beim ORF dann so, als wäre nichts gewesen. In der Routine-Aussendung zur Show gab's kein Wort zu dem Vorfall - auch keines des Bedauerns. Was es gab, waren die noch steigerbaren Quoten: Im Schnitt schauten 574.000 Seher zu. Die Marktanteile bei den jungen Zuschauern lag bei um die 33 Prozent. Mit diesem Auftritt geht natürlich ein Gutteil des ORF -Konzepts den Bach hinunter. Ursprünglich wollte man nur ja keine Freakshow wie die private Konkurrenz bieten. Kunstfurzer und Menschen, die sich in ihre extrem gedehnte Haut einwickeln (Freitag bei RTL), sollten tunlichst vermieden werden. Und dann passiert das. Einfach zum Weinen.
Tränen
"So viel Tränen gibt's nur bei uns", hatte "Supertalent"-Jurorin Sylvie van der Vaart im Sendungstrailer gesäuselt. Geweint wurde in der ersten Sendung der fünften Staffel dann doch nicht. Auf die Tränendrüse gedrückt aber sehr wohl. Unterstandslose Punks und Männer, die alles verspielt hatten. Menschen, die ihr Leben ändern wollen. Im ORF dagegen Mädchen, die "Hallelujah" sangen und an ihre Oma dachten. Die danach in Zeitlupe ihre Mutter umarmten, untermalt von Streichkonzerten. Hätte sich der ORF entschieden, kurzfristig die verbale Watschenpartie zwischen Sido und Michael Jeannée, die im Internet kursiert, zu zeigen - die Freitagssendung wäre spannender geworden. Damit hätte man gegen das "Supertalent" eine Chance gehabt. Hatte man aber nicht.
Der ORF will mit Sido gegen Dieter Bohlen punkten, ist allerdings unsicher, wie heftig er den Berliner mit der großen Klappe austeilen lassen darf. Damit es nicht zu brutal wird, kommt wieder das altbekannte "Good Cop - Bad Cop"-Spiel. Sido ist böse, Bernhard Paul plädiert auf "Chance-Geben". Bei
RTL ist alles spektakulärer. Lauter. "Geiler", für die, die's mögen. Dass ein junger Mann, noch dazu ein Sebastian, ein Akrobatenstück hinlegte, bei dem man meinen konnte, er würde sich jetzt das Genick brechen, war geschmacklos. Auch für einen Privatsender. Resümee: Ob "Supertalent" oder "Die Große Chance" - es gibt interessantere Freitagabend-Beschäftigungen. An die Decke starren zum Beispiel.
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