Stardirigent Kent Nagano warnt: Klassische Musik verliert ihre Bedeutung für die Gesellschaft

Kent Nagano, geboren 1951 in Kalifornien, ist ein international überaus gefragter Dirigent. Ab Herbst ist er Generalmusikdirektor und Chefdirigent der Hamburger Staatsoper
Der Stardirigent ist sich sicher: Gerade jungen Menschen könnte klassische Musik Orientierung in einer "unglaublich komplizierten Welt" bringen.

Es ist so schnell gegangen", sagt Kent Nagano, "in nur einer Generation".

In freundlichem, aber dringlichem Tonfall schildert der Stardirigent im Interview mit dem KURIER etwas, worüber viele in der Klassikbranche nicht gerne öffentlich reden. Schon gar nicht die Weltstars des Genres. Nagano aber weist mit aller Deutlichkeit darauf hin: "Die klassische Musik droht ihre gesellschaftliche Bedeutung zu verlieren. Es ist dramatisch", sagt er.

Die kulturelle Landschaft sei eine gänzlich andere als noch vor 20 Jahren. Man müsse sich fragen, ob die Klassik in der westlichen Welt "überhaupt noch klare Unterstützung" bekommt. Das durchschnittliche Publikum – zumindest in den USA – werde immer älter. Und die Gefahr sei, dass die klassische Musik "zu einem Event für bestimmte soziale Gruppen und Klassen verkommt". Bereits mit seinem im Herbst erschienenen Buch "Erwarten Sie Wunder!" (gemeinsam mit Inge Kloepfer) hat Nagano den Finger auf diese Wunder gelegt. Die Branche ist in einem gewaltigen Umbruch, in einem Ausmaß, das in der Gesamtschau bedrückend ist.

Sterben auf Raten

Die Klassikbranche stirbt "lauter Tode auf Raten", sagt Nagano. Die Auslöser dieser Tode sind bekannt: Die sinkenden oder stagnierenden Budgets sind "eine Herausforderung", in den USA sind "viele Orchester aufgelöst oder zusammengelegt" worden. Öffentliche Subventionen und private Sponsorengelder stagnieren oder werden gestrichen. Der Tonträgerverkauf ist in der Krise; junge Sänger müssen viel rasantere Karrieren durchlaufen. Auch in Europa verändert sich die Branche rapide.

Die Finanzkrise hat insbesondere in Italien und Spanien die Kultureinrichtungen stark belastet. So hat die Oper in Rom im Herbst ihr gesamtes Orchester entlassen müssen. Das Haus in Bari – immerhin die viertgrößte Oper Italiens – hat einen großen Teil der Saison gestrichen.

Nur drei Häuser – die Scala, La Fenice in Venedig und das Teatro Regio in Turin – schreiben schwarze Zahlen. La Fenice, wie der Economist jüngst vermerkte, wegen der vielen Touristen; das Haus laufe Gefahr, ein "Opern-Disneyland" zu werden.

Aber auch jenseits der Institutionen – "es gibt immer noch viele großartige Institutionen" – hat sich viel verändert, sagt Nagano. Musik ist kein zentrales Schulfach mehr. In den Massenmedien finden kaum noch Übertragungen von Opernaufführungen statt.

Konkurrenz

Und das Unterhaltungs- und Kulturangebot, die Konkurrenz der Klassik in der Aufmerksamkeit des Publikums also, sei durch die neuen technologischen Möglichkeiten "überwältigend" geworden.

Stardirigent Kent Nagano warnt: Klassische Musik verliert ihre Bedeutung für die Gesellschaft
Buch

"Es ist ja paradox", sagt Nagano. "Heute kann man die klassische Musik dank neuer Technologien für alle zugänglich machen. Und dennoch gibt es ein Problem in der Kommunikation." Denn die klassische Musik gilt als elitär und kompliziert, als etwas, "das in die Vergangenheit gehört". Dies jedoch weist der Dirigent zurück. Denn dem Kalifornier geht es nicht um das Lamentieren des Bildungsbürgertums, das seine Vorzeigekunst im Abseits sieht. Sondern um ganz aktuelle, gesellschaftliche, ja existenzielle Fragen.

Und deswegen hält er ein flammendes Plädoyer für die klassische Musik: "Gerade in dieser unglaublich komplizierten Welt, in die junge Menschen heute hineingeboren werden, kann die klassische Musik helfen. Helfen zu träumen, zu denken." Helfen, auch jene Identität zu finden, nach der so viele suchen: "Denken Sie an den Islamismus. An die wirtschaftliche Instabilität. Es hat sich so viel verändert. Und wenn alles unverständlich wird, wenn sich niemand mehr auskennen kann, was bleibt dann? In der klassischen Musik gibt es Antworten auf diese Fragen, und zwar für alle Menschen. Und es gibt viele Möglichkeiten, diesen Menschen die Türen zu öffnen."

KURIER-Wertung:

INFO: Kent Nagano, Inge Kloepfer: „Erwarten Sie Wunder!“ Berlin Verlag. 320 Seiten, gebundene Ausgabe.

In Wien ist Kent Nagano demnächst in einem spannenden Projekt zu erleben: Er dirigiert im Theater an der Wien die Neuinszenierung "Herzog Blaubarts Burg / Geistervariationen" (Premiere: 19. Juni) im Rahmen der Wiener Festwochen. Regie führt Andrea Breth – die damit erstmalig in Wien Oper inszenieren wird.

"Herzog Blaubarts Burg" von Béla Bartok wird dabei erstmals als Doppelabend mit den "Geistervariationen" von Robert Schumann aufgeführt. Es spielt das Gustav Mahler Jugendorchester, am Klavier: Elisabeth Leonskaja (Festwochen-Chef Markus Hinterhäuser übernimmt die letzte Aufführung am 25. 6.).

www.festwochen.at

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