Jetzt ist es allen an der Aufführung Beteiligten zu wünschen, dass dieser Abend bald einem größeren Publikum präsentiert werden kann.
Live ist schon das Stichwort, das über dem gesamten Abend steht. „Live. Ein Videoballett“ von Hans van Manen zu Klavierstücken von Franz Liszt, von Shino Takizawa einfühlsam gespielt, entstand bereits 1979. Aus heutiger Sicht ein nahezu erschreckend visionäres Stück, das van Manen zum ersten Mal einer anderen Ballettcompagnie anvertraut als Het Nationale Ballet in Amsterdam, für das es entstand. Zum letzten Mal ist in Wien der Kameramann Henk van Dijk dabei, der das Stück seit der Entstehung nicht nur begleitet, sondern durch seine live Aufnahmen, die auf eine Leinwand projiziert werden, mitgestaltet.
Das Stück steht wie ein Manifest für Martin Schläpfer, der das klassische Ballett mehr in die Gegenwart rücken möchte, als es bisher in Wien der Fall war. Mit Olga Esina übernimmt eine nahezu makellose klassische Primaballerina den Part der Balletttänzerin, die in einen Dialog mit der Filmkamera tritt. Der Tanz erfüllt dabei ihr Leben, wenn sie im Foyer der Staatsoper auf einen Tänzer, Marcos Menha, trifft. Eine ambivalente Beziehung, die mit einer Flucht der Tänzerin in die Außenwelt endet. Die bedrückend unbelebte Wiener Ringstraße wiederum lässt das Coronavirus auch in dieses spartenübergreifende Tanzquartett eindringen.
Neuer Leiter präsentiert sich
Darauf folgt Schläpfers „4“ zu Gustav Mahlers Vierter Sinfonie in G-Dur. Die Erstaufführung der Wiener Philharmoniker, die sich bekanntlich aus Mitgliedern des Orchesters der Wiener Staatsoper zusammensetzen, erfolgte 1902 unter der Leitung des Komponisten, der auch Direktor der Wiener Hofoper war. Schläpfer möchte eine „Partnerschaft mit den Musikern“ eingehen, unterstützt vom Dirigenten Axel Kober. Also eine im Grunde genommen zutiefst historische Verbindung, die Schläpfer wie zuvor schon van Manen in die Gegenwart weiterführt.
Die vier Sätze der Sinfonie werden von zwei Frauen begleitet. Yuko Kato und Rebecca Horner wirken wie zwei Engelfiguren, nicht eindeutig festzumachen, doch immer zukunftsweisend. Das wird am Ende besonders deutlich, wenn Kato nach all den starken Bildern das Stück mit einem federleichten Sprung beendet. Ein Symbol dafür, dass das Leben weitergeht.
„Bedächtig. Nicht allein“ steht für den ersten Satz. Tatsächlich treten fast alle Tänzer des Wiener Staatsballetts auf, auch das eine Novität bei Schläpfer, der die bisher weitgehend getrennt arbeitenden Ensembles von Staats- und Volksoper vereint. Viele von ihnen treten durch individuelle Soli hervor, und all den Einschränkungen durch die lange Pause und das Fehlen von Vorstellungen im Tänzeralltag zum Trotz überwiegen Stärke und Kraft.
Das Fragmentarische durchzieht auch den zweiten Satz, „In gemächlicher Bewegung ohne Hast“, eher der zentrale dritte „Ruhevoll“ folgt. Es gibt Szenen voll Schönheit zu sehen, dazu vier zentrale Pas de deux. Sie sind von Episoden aus Mahlers Beziehung zu seiner Frau Alma inspiriert, von allen Paaren bestechend getanzt.
Das große Finale zum vierten Satz „Sehr behaglich“ hat einen ironischen Unterton. Behaglich ist da lediglich die schöne Sopranstimme Slávka Zámečníková, die von „himmlischen Freuden“ singt, wozu im Text aber auch Katastrophen, Schlachtungen und Existenzbedrohungen zählen. Da gibt es neben virtuosem Ballett viel Bedrohliches im Tanz ausgedrückt, ehe Schläpfers Choreografie in eine berauschende Schlichtheit mündet. Ein starkes Lebenszeichen einer phänomenalen Compagnie.
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