Siegfried Lenz: Kraftvoll wie eh und je

Siegfried Lenz legt einen Sprint hin. Den Endspurt? Sein Stil ist langsam, aber kraftvoll wie eh und je.
85 ist er kürzlich geworden. Seit sechs Jahrzehnten ist er Schriftsteller. Seine "Deutschstunde" (1968) - was war "Pflicht" in der NS-Zeit? - wurde zwei Millionen Mal verkauft.
Geheiratet hat er im Juni 2010 noch einmal; seine Nachbarin. Das hat ihn nach dem Tod seiner ersten Frau gerettet. Das hat ihn ermuntert, "Schweigeminute" fertig zu schreiben.
Jetzt fragt er: Was geschieht, wenn man sich eine Tiermaske aufsetzt?
Eine chinesische Drachenmaske. Der Drache sieht freundlich aus, er zwinkert. Imponierend ist er.
Masken am Strand
Die Maske lag mit vielen anderen in einem Container aus Schanghai, bestimmt fürs Hamburger Völkerkundemuseum. Der Container fiel im Sturm vom Schiff und wurde auf eine Insel an der Elbmündung geschwemmt.
Lene, der Drachenmann hatte bisher kaum Kontakt mit ihr, nahm die Maske einer Wildkatze. Schnurrend kommt sie. Sehr bald liegen sie im Bett und reden von einer gemeinsamen Reise.
Auch andere Gäste des Inselwirts holen Masken vom Strand. Die unbeliebte Frau Pienkogel z. B. ist eine Ente. Man prostet ihr zu. Sie watschelt. Und verfeindete Nachbarn sind jetzt Hund und Affe, reichen einander die Hände, tanzen.
"... was sich sonst, im gewöhnlichen Leben, nicht beachtete oder nur Geringschätzung füreinander übrig hatte, fand plötzlich zueinander und genoss die ungewöhnliche Zweisamkeit".
Die Masken schlagen vor, wie man sich besser fühlen kann in der Welt. Aber kaum müssen sie zurückgegeben werden, herrscht wieder Streit; und Lene verlässt grußlos den neuen Freund und die Insel.
's war halt nur Betrug.
Oder das Gegenteil? Machten Drache, Katze, Hund und Affe die Menschen für kurze Zeit "echt"?
Literatur ist notwendig

"Die Maske" war als längere Novelle geplant gewesen. Aber auf 40 Seiten hatte Lenz alles gesagt, inklusive Meer und Sturm.
Der einsame Höhepunkt inmitten vier anderer Geschichten, von denen noch "Ein Entwurf" erwähnenswert ist -, weil gezeigt wird, wozu Literatur fähig ist und warum wir sie bitter notwendig haben: Da liegt ein Schriftsteller im Spital und liest seiner Frau vor, was er eben geschrieben hat - über ihren Sohn Sven.
Dass Sven Unrecht nicht ertragen konnte. Dass er fleißig, umsichtig war. Dass er bald heiraten wollte.
Und ertrunken ist.
Die Frau weint. Als sie geht, fragt der Bettnachbar: "War es so?" - Nein, war es nicht: Sven starb bei der Geburt. Peter Pisa
KURIER-Wertung: **** von *****
Ngũgĩ wa Thiong'o - "Herr der Krähen"

Die Realität ist durch Romane nicht zu toppen.
In der Realität wurde Daniel arap Moi, von 1978 bis 2002 Kenias Präsident, nicht des Amts enthoben, weil er der Folterer seines Volks war, sondern, simpel: Er stolperte über eine Korruptionsaffäre. Er hatte für ein Duty-Free-Läden-Monopol im Land Millionen Dollar von einem pakistanischen Geschäftsmann kassiert. Ein Deal, der reine Fiktion war. So was kann man nicht erfinden.
Ngugi wa Thiong'o, der große kenianische Erzähler mit Exil-Wohnsitz Kalifornien, hat deshalb auch an keinem Buch über Moi getüftelt. Für seinen "Herr der Krähen" fasst er den ganzen Klub afrikanischer Schlächter in einer Figur namens "Seine Allmächtige Vortrefflichkeit" zusammen. Der hat ein paar Krokodile für politische Gegner und eine Schädelgruft für seltsame Kulte ...
Sagen die Leute. Die kleinen. Die kommen im Buch nämlich auch nicht gut weg. Ihr Aberglaube ist um nichts besser als die Allmachtsfantasien des Herrschenden.
"Herr der Krähen" ist ein Opus magnum. Eine fantastische Parabel über die Befindlichkeit des schwarzen Kontinents, und wie Weltwirtschaft und Weltpolitik an ihm herumdoktern. Eine Operation am offenen Herzen Afrikas, bei der man aus vollem Herzen lachen kann.
Der Fast-1000-Seiten-Schmöker ist skurril, satirisch. Gnadenlos in seinem Witz. Die Handlung (oder ehrlich - drei von unzähligen Handlungssträngen):
In der Freien Republik Aburiria plant der große Diktator ein gigantisches Bauprojekt, "Marching to Heaven", einen modernen Turm zu Babel. Den Kredit dafür soll die Global Bank in New York lockermachen.
Doch die Widerstandsbewegung "Stimme des Volkes" stört deren Besuch mit blanken Hintern.
Minister mit chirurgisch vergrößerten Spitzelaugen und -ohren intrigieren um die Gunst des Despoten.
Und mitten im Staatschaos schwingt sich ein arbeitsloser Akademiker zum Propheten und Berater, zum Heiler, zum Herrn der Krähen auf ...
Ngugi wa Thiong'o, der in seiner Muttersprache Gikuyu schreibt, bleibt im Stil der afrikanischen Fabeltradition treu. Eine beinah naive, unaufgeregte Stimme schildert die horribelsten, absurd-schaurigsten Ereignisse. Eine bestechende Kombination. Wann regnet's für dieses Buch endlich Preise? Michaela Mottinger
KURIER-Wertung: ***** von *****
Jo Nesbø - "Die Larve"

Wenn eine Rattenmutter nicht zurück ins Loch kann, wo ihre hungrigen Jungen warten, weil nämlich vor diesem Loch ein Mensch liegt und an einer Schussverletzung krepiert, dann ist das schon einmal ganz gut - für einen Krimi; für den neunten Krimi mit Harry Hole, der aus dem Opiumnebel Hongkong nach Oslo zurückgekehrt ist.
Seit er ganz am Anfang, betrunken im Dienst, einen Polizeikollegen erschossen hat, ist und bleibt er ein Meister des Scheiterns. Und der Popsänger und Börsenmakler Jo Nesbø, der bloß ausprobieren wollte, wie ein Thriller funktioniert, bleibt der erfolgreichste Schriftsteller Norwegens.
"Die Larve" ist ein völlig unpassender Titel, aber der beste Roman dieser Serie. So viel Seele, und trotzdem so viele Angriffe aufs leibliche Wohl ... Dabei stellt sich heraus, welch ausgezeichnete Verteidigungswaffe ein Korkenzieher ist.
Was macht er in Oslo? Polizist ist er längt nicht mehr. Geldeintreiber war er zuletzt. Harry Hole kam, weil seine große, seine einzige Liebe Kummer hat: Ihr Sohn wurde als angeblicher Mörder eines Freundes im Drogenmilieu verhaftet. Harry Hole tut, was er kann. Und die Rattenmutter ist ein armes Schwein: Am Ende liegt schon wieder ein Sterbender vor dem Loch.
Peter Pisa
KURIER-Wertung: **** von *****
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