Beim Lesen von Peter Handkes neuem „Werk“ beschleichen einen längere Zeit leise Zweifel, ob die Behauptung des Klappentextes nicht an den Haaren herbeigezogen ist. „Schnee von gestern, Schnee von morgen“ sei, steht da, „ein Stück für die Bühne, ein Drama ohne Rednerwechsel, ein Lied ohne Kehrvers“.
Man vermag aber nichts sonderlich Bühnentaugliches auszumachen. Handke lässt einen bloß wieder teilhaben an seinem eigenbrötlerischen Alltag samt Spaziergängen („Himmel, wie konnte ich bloß zum Alleingeher werden“) und Grübeleien. Der Grundton ist heiter, und spielerisch versucht der in Chaville nahe Paris lebende Autor der Routine Herr zu werden. Beziehungsweise ihr ein Schnippchen zu schlagen.
Indem er zum Beispiel „die Dauer der Nachbilder bei geschlossenen Augen“ zum Forschungsgegenstand erhebt. Oder indem er aphorismenartige Tageshoroskope erfindet. „Ihre Dämonen kommen zurück, genießen Sie jeden Moment ohne Tortur“, lautet eine der Weissagungen. Und eine andere: „Sie sind heute dabei, sich selber zu übertreffen, bloß fehlt es Ihnen gewaltig an Rückhalt.“
Nebenbei gibt sich der Erzähler immer wieder „Elfte Gebote“, darunter „Keine Miene mehr verziehen!“. Und so stellt er gegen die Mitte hin fest: „He, was du als Spiel angingst, ist es da nicht gerade in Gefahr, in Arbeit auszuarten?“ Längst aber steckt Peter Handke mittendrin.
Die scheinbar unzusammenhängenden, beiläufigen Notizen und Beobachtungen fügen sich, ohne dass man den Zusammenhang frei fantasieren muss. Denn das Bändchen (möglicherweise das schmalste aller schmalen Handke-Bücher) bekommt, als man die Hoffnung bereits aufgegeben hat, eine geradezu dramatische Wendung.
Dieses Mal ist Handke nicht durch Wälder oder entlang von Feldern gegangen, er hat weder Pilze gesucht noch Muscheln gefunden, sondern nur einen Apfel, „angebissen von Kinderzähnen“. Er geht „kreuz und quer“ und „querfeldein“, einfach „aufs Geratewohl“ über die industrialisierten Steppen der Peripherie (dem Text vorangestellt ist denn auch ein Zitat aus Anton Tschechows „Die Steppe“). Irgendwann wird der „Kreuz-und-Quer-und-Querfeldein-Geher“, der sich einen „Eisenbahnschwellengang“ angeeignet hat, mit einem gewaltigen Krach konfrontiert. Normalerweise wäre sein Alter Ego ausgezuckt. Aber nun verwandelt sich das „Krach-und-Lärm-Chaos“ in ein „Klangerlebnis“. Dieses mündet in einem Tanz. Und ein Tanz ist bei Handke immer das Höchste der Gefühle.
Im Gegensatz zu „Zwiegespräch“ aus 2022, von Rieke Süßkow im Akademietheater grandios uraufgeführt, ist „Schnee von gestern, Schnee von morgen“ nur ein innerer Monolog: Erst gegen Ende hin kommt es zu einer Abfolge von Frage und Antwort. Aber die gewaltige Schall-Attacke kann man sich sehr gut als Bühnenspektakel vorstellen. Als Lektüre sind die 70 Seiten jedoch nur echten Handke-Exegeten empfohlen.
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