Opernfestival in Aix-en-Provence: Klassische Inszenierungen, Sex in Großaufnahme und viel Gluck
Von Denise Wendel-Poray
Das diesjährige Opernfestival in Aix-en-Provence lässt sich vielleicht am besten als eine Art "Rückkehr zur Ordnung" beschreiben, eine Bewegung, die mit dem Neoklassizismus der 1920er-Jahre zusammenhängt. Insgesamt sind die Inszenierungen sehr klassisch und bleiben nah am Sinn des Textes, in diesem Sinne ist Andrea Breths "Madame Butterfly" beispielhaft.
Das Bühnenbild und die Kostüme beziehen sich auf die Epoche und die Figuren, und es gibt eine Tendenz zum Hyperrealismus, insbesondere in "Pelléas et Melisande" von Katy Michell, wo der Sex in Großaufnahme und kinematografisch dargestellt wird. Es gibt keine offenkundigen politischen Inhalte.
Ironischerweise sind die avantgardistischsten und zum Nachdenken anregenden Produktionen des Programms Peter Maxwell Davies' "Eight Songs for a Mad King" von 1969 und "The Kafka-Fragments" von György Kurtag aus dem Jahr 1987. Wie die serbische Performance-Künstlerin Marina Abramovic kürzlich sagte: "Wir konnten damals Dinge tun, für die wir heute verhaftet werden würden."
Marathon von Aulide bis Tauride
Das Festival d'Aix en Provence eröffnete seine 77. Ausgabe mit zwei Opern von Christoph Willibald Gluck: "Iphigénie en Aulide" und "Iphigénie en Tauride", die im Rahmen eines Doppelmarathons unter der Leitung des Russen Dmitri Tcherniakov aufgeführt wurden. Wenn Mozart der meistgespielte Komponist in Aix seit der Eröffnung des Festivals im Jahr 1948 ist, so steht Gluck an zweiter Stelle. Dennoch ist die Aufführung dieser abendfüllenden Partituren selbst für ein französischsprachiges Publikum, das an die geheimnisvolle Natur des Genres gewöhnt ist, eine Ausdauerübung.
Obwohl die Episoden in Iphigénie eine gemeinsame Protagonistin haben, sind ihre Stimmlagen sehr unterschiedlich. Die amerikanische Sopranistin Corinne Winters stellte sich dieser zermürbenden Aufgabe, fühlte sich aber in der höheren, leichteren Stimmlage der Aulide deutlich wohler als im tieferen Bereich der Tauride.
Kurz gesagt beginnt der griechische Mythos der Iphigénie in Aulide, als sie den Göttern geopfert werden soll, um den Sieg der Griechen über die Trojaner zu sichern, aber schließlich von der Göttin Diane (kanadische Mezzosopranistin Soula Paradissis) verschont wird.
Nach einer eineinhalbstündigen Essenspause kehrt das Publikum zurück. In der Zwischenzeit erfahren wir durch Übertitel, dass ein langer und blutiger Krieg stattgefunden hat. Nun erfährt Iphigénie im 2.000 Meilen entfernten Tauride, dass sie nun ein Opfer darbringen muss.
Unter Tcherniakovs Regie werden die beiden Handlungen zu einem Werk, das im selben szenischen Rahmen spielt. Nur das Familienbild verblasst gegenüber dem der dekadent reichen Eliten von Aulide: Agamemnon (ausgezeichneter kanadischer Bariton Russell Braun), Clytemnestre (französischer Barockstar Véronique Gens), Calchas (Nicolas Cavalier), Patrocle (Lukás Zeman) zu jenem Tauride, wo eine gealterte und verarmte Iphigénie allein in den skelettartigen Resten des Palastes sitzt. Hier trauert sie um die Tausenden von Toten und sehnt sich nach der Rückkehr ihres Bruders Oreste, umwerfend gesungen vom französischen Bariton Florian Sempey. Ihm zur Seite steht sein geliebter Pylad, der französische Tenor Stanislas de Beybeyrac, der als einer von zwei als Iphigénies Opfer ausgewählt werden muss.
Emmanuelle Haïm und ihr Ensemble für historische Instrumente, Le Concert d'Astrée, erwecken die Partitur energisch zum Leben und fesseln die Aufmerksamkeit des Publikums während dieses außergewöhnlich langen Abends.
Patchwork-Samson
Da die Originalpartitur von Rameaus "Samson" vor etwa 250 Jahren verloren ging, ist die Produktion in Aix eine wissenschaftliche Ausgrabung und Zusammenstellung anderer Rameau-Stücke, die ihre Spuren enthalten. Das Ergebnis sind über 60 Nummern, darunter Ausschnitte aus Werken wie "Les Indes Galantes", "Castor et Pollux", "Les Fêtes d'Hébé" und "Zoroastre". Die ergreifende Arie, in der Dalila ihren Verrat an Samson bereut, wird auf die Melodie von "Entrée de Polymnie" aus "Les Boréades" gesungen.
Die heikle Aufgabe, dieses Pastiche wie eine vollständige Oper wirken zu lassen, gelang gerade deshalb, weil zwischen den Szenen Klang- und Lichtinstallationen eingefügt wurden. Diese von dem multidisziplinären Künstler Mathis Nitschke und dem Licht- und Videokünstler Bertrand Couderc geschaffenen Zeitlupenmomente, die die epischen Kämpfe zwischen den Israeliten und den Philistern darstellen, waren äußerst wirkungsvoll.
Die Handlung reicht weiter in die biblische Geschichte zurück als Voltaires Libretto oder auch andere Adaptionen wie Händels Oratorium "Samson" und Saint-Saëns' Oper "Samson et Dalila". Die Schauspielerin Andrea Ferréol stellt Samsons alte Mutter dar und rezitiert Passagen aus Colm Tóibíns Roman "Das Testament an Maria" (2012) über die Kindheit Samsons.
Der mit übermenschlichen Kräften ausgestattete Samson neigt zu katastrophalen Gewalttaten, darunter ein Anschlag, bei dem Hunderte von Menschen ums Leben kommen. Der amerikanische Bariton Jarrett Ott hat die Schultern und die Stimme, um diese beängstigende Rolle zu beherrschen, indem er gleichzeitig die legendäre Kraft und die extreme Verletzlichkeit des Helden darstellt. Seine Ehen enden in einer Katastrophe; die erste mit der Philisterin Timna (die bezaubernde Lea Dessandre) endet mit ihrem Tod, und seine Ehe mit Delila (die prächtige Jacquelyn Stucker) endet mit seinem Verrat und ihrem Tod.
Pichons Orchester Pygmalion, das mit historischen Instrumenten besetzt ist, bringt die wechselnden Stimmungen von den überschwänglichen Chören und Tänzen bis hin zu den düsteren und grüblerischen Arien und instrumentalen Zwischenspielen beständig zum Ausdruck.
Butterfly und Hokusai
Nach den fesselnden Inszenierungen von Jakob Lenz (2019) und Salomé (2022) wartete das Publikum in Aix mit Spannung auf Andrea Breths Vision von Madame Butterfly. Bekannt für ihre legendären, oft erschütternden Inszenierungen der letzten vier Jahrzehnte, genießt sie in Frankreich Kultstatus und gilt als eine der ganz Großen des deutschen Regietheaters. Die Frage, die sich jeder stellte, war, wie sie sich Puccinis exotischem Melodram nähern würde. Schließlich erzählte sie dieses abgedroschene Melodrama mit der Einfachheit einer Hokusai-Radierung, mit großer Schlichtheit und fein abgestimmter Schauspielregie.
Ein Laufband lässt Geishas lautlos in die Bühnenmitte gleiten, ein japanisches Ahnenhaus mit Paravents und leuchtenden Laternen, Männer und Frauen in traditioneller Kleidung, weiß maskierte Kabuki-Schauspieler, die sich erstaunlich streng an den Text halten.
Die albanische Sopranistin Ermonela Jaho singt die Butterfly trotz ihrer manchmal begrenzten Kraft mit Intensität und Zartheit. Leider sind in ihrem Scheinwerferlicht die Unzulänglichkeiten des amerikanischen Tenors Adam Smith als Pinkerton umso krasser. Auch die Suzuki von Mihoko Fujimura bleibt hinter dem zurück, was man von der engsten Vertrauten der verzweifelten Cio-Cio-San erwartet. Der Mezzosopran der Wagner-Veteranin hat ein unscharfes, düsteres Timbre, das in krassem Gegensatz zu Jahos filigranem Legato steht.
Im Gegensatz zu Breths behutsamer Inszenierung dirigiert Daniele Rustioni diese üppige Partitur mit Vollgas und ohne Zurückhaltung. Der Kontrast ist manchmal schrill, aber das Publikum war dennoch gebannt, besonders von Johos Schlussszene, die mit stehenden Ovationen belohnt wurde.
Alles, was Sie schon immer über Pelléas wissen wollten, aber nicht zu fragen wagten
Die fünfte und letzte szenische Oper der diesjährigen Festspiele ist eine Wiederaufnahme von Katie Mitchells 2016 entstandener Inszenierung von Debussys einziger vollendeter Oper Pelléas et Mélisande. Die englische Regisseurin hat ihre Inszenierung überarbeitet, insbesondere die Sexszenen perfektioniert und sie realistischer und kinematografischer gestaltet; Vergewaltigungen und Missbrauch sind an der Tagesordnung. Der Haupttäter ist natürlich Golaud (der französische Bariton Laurent Naoury, das einzige Mitglied der Originalbesetzung), der nicht nur Mélisande (Chiara Skerath), sondern auch den Jungen Yniold (in Mitchells neuer Version ein Teenager, gesungen von Emma Fekete) angreift. Kurz vor Beginn der Ouvertüre schläft Mélisande auf einem Bett ein, und von da an verstehen wir, dass wir ihren Traum verfolgen. Die Protagonistin hat einen Doppelgänger und ist somit in zwei Teile gespalten, "einer lebt die Handlung und der Doppelgänger sieht zu, wie er dieselbe Handlung lebt", erklärt Mitchell - wie in einem Traum.
Diese Traumwelt spielt sich auf einer Bühne von gespenstischer Schönheit ab: eine wackelige Wendeltreppe, ein verlassenes Schwimmbad und ein Schlafzimmer, dessen Wand von einem großen, belaubten Baum durchbohrt wird. In diesem Zimmer dient ein Schrank als Tor zu einer anderen Dimension, in der Mélisande wie Alice im Kaninchenbau verschwindet. Die große Entdeckung des Abends war jedoch der außergewöhnliche britische Bariton Huw Montague Rendall, der mit seiner beispielhaften Eleganz und Sensibilität ganz in der Tradition des britischen Tenors Ian Bostridge steht. Die musikalische Leitung von Susanna Mälkki zeichnet sich durch kontrollierte Tempi und eine breite Palette von Farben aus, die oft wie in der Zeit schweben.
Verrückte Könige und Dichter
Kein Festival von Aix wäre vollständig ohne einen Abend im Schmuckkästchen Théâtre du Jeu de Paume. Reserviert für kleine Kammermusikwerke und Raritäten wie "Eight Songs for a Mad King" (1969) von Peter Maxwell Davies, diesmal in der Regie von Barrie Kosky mit dem außergewöhnlichen Johannes Martin Kräzler als König Georg III. Im Anschluss und aus Einfühlung in den "Wahnsinn" spielt Anna Prohaska György Kurtags The Kafka-Fragments (1987), das die Existenzangst des Dichters perfekt zum Ausdruck bringt.
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