Es lag ziemlich nahe, dass sich die queere Theatergruppe Nesterval unter den vielen Operetten von Johann Strauss die „Fürstin Ninetta“ aussuchen würde. Denn besagte Dame tritt als junger Mann namens Carolino in Erscheinung – und versteht zu betören. Es lag auch nahe, dass Roland Geyer, der Intendant des Johann-Strauss-Jahres, das palmenbestandene Dianabad, von 2000 bis 2020 eine Disneyland-artige Erlebnisoase, als Aufführungsort empfahl. Denn die Operette spielt im mediterranen Sorrent – und im ursprünglichen Dianabad erklang zum ersten Mal der „Donauwalzer“.
Ohne Scheu vor geradezu haarsträubender Unlogik verknüpfte Theatermacher Martin Finnland mit seinem Team das eine mit dem anderen: Seit der Uraufführung am Samstag lädt das „Hotel Nesterval“ in Sorrent ein, Silvester als „Tagesgast“ zu verbringen. Zu Beginn besteigt man eine Boeing – und landet 1974 in der weitläufigen Anlage mit Rezeption, Ristorante, Boccia-Bahn und Strand.
Einem beschwingten Tag steht nichts im Wege. Aber beim Flanieren durch das von Andrea Konrad mit viel Liebe zu Details adaptierte Dianabad lernt man diverse (im doppelten Wortsinn) „Menschen im Hotel“ kennen. Vereinsamte, Kranke – und jene, die, wie Siebel und Frosch, nur Spaß haben wollen. Es ist schließlich 1974! Die sexuelle Revolution wird ausgelebt, Aids gibt es noch nicht. Man nimmt LSD und schnupft Kokain. Aber in diesem Babylon-Club gilt es auch kommunikative Hürden zu überwinden: Der Direktor redet nur Griechisch, eine Frau in Gebärden.
Nesterval hat zudem eine tagespolitische Botschaft eingebaut. Denn für die Urlauber liegt die Original-Krone jenes Jahres herum (man hat ein wenig mit den Datumsangaben getrickst). Eine Headline lautet „Die 414 Versprechen der drei Parteien“, eine andere ist ein Zitat von Bundeskanzler Bruno Kreisky nach dem Wahlsieg: „Die Leut’ haben mich halt ganz gern!“
Auch wenn es nicht den Anschein hat, bleibt Nesterval nah am Plot von Hugo Wittmann und Julius Bauer aus 1893. Und die ohnedies verworrene Handlung rund um eine Heirat mit Komplikationen wurde noch um weitere Figuren, darunter Katharina Wagner und die aus Goethes „Faust“ bekannte Marthe Schwerdtlein, ergänzt.
„Einst träumte mir“
So gibt es 20 Darsteller, denen man folgen kann. Jede der 180 Szenen ist ein Puzzlestein. Natürlich bekommt man nur einen Bruchteil zu fassen. Man müsste daher mehrere Vorstellungen besuchen. Oder man tauscht sich danach – die Spieldauer beträgt drei Stunden – mit anderen aus. Das ist gerade in dieser prototypischen Nesterval-Produktion wichtig. Denn nach dem gemeinsamen Anstoßen aufs Neue Jahr mit einer sehr schrägen Choreografie von Jerôme Knols zum „Donauwalzer“ zerfranst die Handlung in Einzelschicksale. Die meisten Geschichten enden furchtbar tragisch: Die Micky Maus tritt als Tod auf, Astôn Matters und Géraldine Schabraque berühren ungemein.
Und im Gespräch wird man feststellen, dass nicht nur Brahms zu hören war (in einer italienischen Coverversion): Es wurden auch die Ouvertüre aus „Fürstin Ninetta“ gespielt, die „Pizzicato-Polka“ und live „Einst träumte mir“ als Schlager im Duett. Fulminant.
Kommentare