Die Welt im Licht von William Turner

Mr. Turner ist kein Maler, der einfach nur malt. Mr. Turner bespuckt die Leinwand, zerkratzt sie mit dem Fingernagel und sticht mit dem Pinsel auf sie ein. "Erbärmlich", findet Queen Victoria seine dramatischen, zunehmend abstrakten Lichtspiele: "Schmutziges, gelbes Geschmiere."
William Turner, einer der prägendsten Maler Englands, Meister des Lichts, Wegbereiter des Impressionismus und der modernen Malerei: Er stirbt 1851 und gilt schon zu Lebzeiten als Star – geboren in der Arbeiterklasse, wurde er bereits im Alter von 14 Jahren an die Royal Academy aufgenommen.
Bei Mike Leigh ist Turner kein gepflegter Schöngeist, und schon gar nicht veredeltes Künstlergenie. Gesehen von dem britischen Regisseur, ist Turner erstmal nur schlicht "Mr. Turner". Ein grobschlächtiger Geselle von bulliger Statur, mit hängenden Pausbacken, buschigen Augenbrauen und wild wucherndem Backenbart. Der bulldoggige Timothy Spall erhielt für seine beinahe animalische Anverwandlung den Darstellerpreis in Cannes.
Als Turner poltert er durch die Adelsgesellschaft und gibt anstelle von Sätzen gerne Grunz- und Knurrlaute von sich. Wie ein Trüffelschwein tigert er durch die Landschaft, auf der Suche nach Lichtstimmungen. Er lässt sich im Schneesturm an einen Mast binden und studiert die Dynamik des Meeres, die Sonnenauf- und Untergänge. Und immer wieder bricht aus dem derben Turner die zartbesaitete Empfindsamkeit heraus. Wenn er zum Klavierspiel singt oder noch in den gewöhnlichsten Gesichtern die Schönheit des Klassizismus entdeckt, macht sich sein Feinsinn spürbar.
Erdiges Biopic
Mike Leigh, der große Sozialrealist des britischen Kinos, rückt die Bilder seines erdigen Biopics buchstäblich in Turners Licht. In beinahe jeder Einstellung strebt er nach einer Komposition wie in einer Turner’schen Gemäldemalerei. Milchiges Licht, mildes Gelb, Orange, Braun und verglühendes Abendrot über holländischer Landschaft – er entwirft lebhafte Tableaus von fein ziselierter Schönheit, ohne ins Prahlerische zu verfallen. Vor unseren Augen entstehen adelige Gesangsabende im Kerzenlicht, malerische Seestädtchen und die blasierte Eleganz der Royal Academy. Leigh lässt historische Welten entstehen, indem er sich ganz auf Turners Licht verlässt.
Der Künstler selbst malt auch Dramen wie etwa die Ertränkung von Sklaven auf hoher See. Seine Zeitgenossen wollen jedoch nur die Technik seiner Lichtsetzung bemerken, nicht das Verbrechen. Aber auch Turner selbst verströmt bürgerliche Kälte, wo es um die eigenen Privilegien geht. Die armselige Hausangestellte, rettungslos in "Master Billy" verliebt, benützt er wie ein sexuelles Wegwerftuch. Das Leid der Frau manifestiert sich in aufgekratzten Schuppenflechten, die im Verlauf der Jahre ihren ganzen Körper verkrusten. Ihr Elend entgeht den ansonsten so scharfen Augen des Meisters, am Ende hat er sie komplett vergessen.
Nicht aber Mike Leigh. Er lässt den todkranken Künstler – beinahe Goethe-ähnlich – mit einem einprägsamen Satz ("Die Sonne ist Gott!") sterben. Das letzte Bild seines Filmes aber gehört nicht dem großen William Turner, sondern der kleinen, verkrusteten Hausangestellten, die haltlos weinend durch das leere Haus des Malers irrt.
INFO: Mr. Turner - Meister des Lichts. GB 2014. 150 Min. Von Mike Leigh. Mit Timothy Spall, Dorothy Atkinson, Marion Bailey.
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