Michael Köhlmeier: Menschen mit Rufzeichen und mit drei Punkten ...

Einer von vielen gedanklichen Hoch- und Weitsprüngen
Michael Köhlmeiers geht so:
Der Abend ist kühl geworden, ein Mann und eine Frau haben Holz im Kamin angezündet, sie sitzen auf dem Boden vor dem Ledersofa, die Beine zum Feuer hin ausgestreckt, sie trinken Grog und rauchen Gras ...„ und ein großer Friede war gewesen, wie es ihn nur gibt, wenn sich die Langeweile als Nachbarin niederlässt, aber nicht anklopft.“
Weltklasse.
Märchen
„Bruder und Schwester
Lenobel“ ist das siebente Buch Köhlmeiers seit 2016 ... und jenes Buch, das sich sehr zu lesen lohnt. Jedem Kapitel ist ein von ihm erfundenes Märchen vorangestellt. Schön rätselhaft sind sie und sollen nicht gedeutet werden.
Über ihre Notwendigkeit lässt sich streiten. Der Vorarlberger meint, das Märchen soll wie Musik sein, wie Farbe, die das Kommende ankündigt bzw. einfärbt.
Aber Teufel und Wolf unterbrechen. Außerdem: Ein bissl will man selbst entscheiden, welche Farbe die Buchseiten bekommen, wenn ein Mann seine Frau verlässt.
55 ist er. Der Psychoanalytiker Dr. Robert Lenobel wird nie mehr er zu seiner (selbst beim Lesen) nervende Frau in die Wiener Garnisongasse zurückkommen.
Er hat sich verliebt.
Seine Frau Hanna – unfähig, geliebt (!) zu werden – ruft Lenobels Schwester Jetti, zurzeit in Dublin, zu Hilfe. Eine schöne, lebenslustige Neunundvierzigjährige.
Wenn Hanna ein Mensch mit vielen militärischen Rufzeichen ist, hat Jetti drei Punkte ... Sie lässt es laufen. Auch auslaufen. Wechselt Männer und Wohnorte problemlos. Kann ohne Vergangenheit leben.
Kann man ohne Vergangenheit leben?
Friede
Ein Mann in der
Krise löst bei Köhlmeier Charakterstudien aus. Ein Familienporträt. Ein Porträt der Gegenwart mit Bildern von früher: Die Mutter der jüdischen Geschwister Lenobel war eine „Ikone der Verzweiflung“, deren Eltern im KZ ermordet wurden.
Zusammenfassen ist unmöglich: Es ist so viel Leben im Roman – mit Suchen und Scheitern; man wird merken, dass ohne Beziehungen nichts entstehen kann; man wird sich selber sagen hören: Beginnen wir neu! Ein bisschen Zeit bleibt noch!
Es wird geweint und gelacht bei „Bruder und Schwester Lenobel“, es herrschen Ironie und Panik – aber beim Lesen ist es großer Friede gewesen, wie es ihn nur gibt, wenn sich die Langeweile als Nachbarin niederlässt, aber nicht anklopft.
Michael
Köhlmeier:
„Bruder und Schwester
Lenobel“
Hanser Verlag.
544 Seiten.
26,80 Euro.
KURIER-Wertung: **** und ein halber Stern
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