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"Macondo": Neue Männer braucht das Land
Plus: "Nightcrawler", "Die geliebten Schwestern" und "Dumm und dümmehr".
Macondo ist nicht nur ein fiktiver Ort in Gabriel García Márquez’ Roman "Hundert Jahre Einsamkeit". Macondo ist auch ein Flüchtlingsdorf in Wien-Simmering. Angesiedelt zwischen Industriezentren, Autobahnbrücken und Simmeringer Heide findet sich jener ganz spezielle Ort, der seit den 1950er-Jahren Flüchtlinge beherbergt.
Dort wächst ein elfjähriger, tschetschenischer Bub namens Ramasan auf. Er hat seinen Vater im Krieg verloren und lebt nun mit seiner Mutter und seinen zwei kleinen Schwestern in Macondo. Ein kleiner Macho, der seine Männlichkeit austestet, die Mädchen gern herumkommandiert, aber gerade auch seiner traumatisierten Mutter gegenüber ganz zarte Töne anschlagen kann.
Man spürt, dass Regisseurin Sudabeh Mortezai, die in Teheran geboren wurde und in Wien lebt, vom Dokumentarfilm ("Im Bazar der Geschlechter") kommt. In ihrem mehrfach ausgezeichneten Spielfilmdebüt – zuletzt mit dem Wiener Filmpreis – findet sie mit ihrer hochmobilen Kamera leichthändig Nähe zu ihren jungen Protagonisten. Sie sieht Kindern auf dem Spielplatz und beim Fußballspielen zu und entfaltet unaufgeregt, aber dringlich ihre Geschichte.
"Macondo" ist insofern erstaunlich, als es am Rande von Wien eine weitgehend unbekannte Welt auftut. Da, wo die Stadt in die Gstätten übergeht, wo Beton plötzlich in Wiese und Flussufer mündet, verortet Mortezai das Leben ihres Protagonisten.
Eifersucht
So gerät Ramasans Welt in Unruhe, als Isa, ein angeblicher Freund seines toten Vaters, im Dorf auftaucht. Zuerst fühlt sich der Bub zur neuen Vaterfigur hingezogen. Der Mann schenkt ihm ein Taschenmesser und spitzt mit ihm Pfeil und Bogen. Bald jedoch keimt Eifersucht auf, als Ramasan klar wird, dass Isa einen Platz in der Familie einnehmen könnte. Die Freundschaft verkehrt sich in Ablehnung.
Mortezai verzichtet in ihrer Coming-of-Age-Geschichte weitgehend auf Milieu-Tristesse: Zwar schwebt ein Asylverfahren über der Familie, doch lebt Ramasan weder in sozial verwahrlosten Verhältnissen, noch treten die österreichischen Behörden als drangsalierende Instanzen auf. Auch die Siedlung selbst ist kein Ort der üblichen Flüchtling-Misere, sondern bunt bewohnter, integrativer Lebensraum.
Stattdessen steht Ramasans Erziehung des Herzens auf dem Spiel. Denn Einbrüche im Baggerpark und versuchter Diebstahl im Baumarkt gefährden den Aufenthalt der Familie in Österreich.
Die noch grundsätzlichere Frage für den Buben lautet aber: Wann ist ein Mann ein Mann? Wenn er heroisch im Krieg stirbt, wie der Vater? Wenn er als guter Sohn auf Rache sinnt? Wenn er in der Moschee betet?
An Macondo grenzt ein struppiges Waldstück, in dem sich regellose Freiheiten eröffnen. Dort tobt Ramasan seine Frustrationen aus. Dort ersticht er ein altes Sofa anstelle des verhassten Isa. Denn Isa fordert ihn heraus, indem er einen anderen, softeren Typus Mann verkörpert als Ramasans toten Vater, der als Kriegsheld verehrt wird und dessen Säbel zu Hause an der Wand hängt.
Die notwendig kritische Befragung traditioneller Vorstellungen von Männlichkeit macht die Krise des Erwachsenwerdens aus, suggeriert Mortezai. Und genau von dieser Krise erzählt "Macondo".
INFO: Macondo. Ö 2014. 98 Min. Von Sudabeh Mortezai. Mit Ramasan Minkailov, Aslan Elbiev, Kheda Gazieva.
KURIER-Wertung:
Nächtliche Jagd in L. A. nach blutigen Bildern
Nightcrawler" eilt der Ruf des genialen Neo-Noir-Thrillers und der knallharten Medien-Satire voraus. Ein abgemagerter Jake Gyllenhaal spielt darin Lou Bloom, einen manischen Videofilmer auf der Suche nach möglichst drastischen Bildern für die TV-News. Als eine Art Reporter des Teufels, wie einst vor ihm Kirk Douglas, streift er manisch durch ein nachtschwarzes Los Angeles und filmt am liebsten Unfalltote und Verletzte.
Sollte eine Leiche nicht fotogen genug im Bild liegen, schiebt Bloom sie seelenruhig zurecht. "When it bleeds, it leads", belehrt ihn die Chefin eines drittklassigen TV-Senders – unverwüstlich schön: Rene Russo. Salopp übersetzt: Je blutiger, desto besser (für die Schlagzeile).
Die simple Botschaft kommt bei Lou sofort an. Er engagiert einen obdachlosen Burschen mit guten Straßenkenntnissen. Gemeinsam hören sie den Polizeifunk ab, rasen durch David-Lynch-Land und filmen urbanes Verbrechen.
Jake Gyllenhaal spielt seinen kalten Engel mit bleichen Wangen und sardonischem Grinser. Mitleidslos leuchten seine Augen wie fahle Mondscheiben von der Leinwand. Ein moderner Vampir, der sich in grimmiger Horror-Satire an der Blutrunst der Mediengesellschaft labt. Allerdings pusht Gyllenhaal seine Performance – von vielen als die beste seines Lebens gefeiert – hart an die Grenze des Cartoons. Wenn er mit weit aufgerissenen Augen seine neuen Arbeitgeber anstrahlt, liegt der Vergleich mit "American Psycho" nicht fern.
Erstlingsregisseur Dan Gilroy (Drehbuchautor von "The Bourne Legacy") beschwört mit seinen charismatisch-schönen Bildern die Verbrechen der Nacht mit der Ehrfurcht eines Hohepriesters. Doch die Drohbotschaft seiner Medienkritik bleibt apokalyptisch leer.
INFO: USA 2014. 117 Min. Von Dan Gilroy. Mit Jake Gyllenhaal, Rene Russo, Bill Paxton, Riz Ahmed.
KURIER-Wertung:

Ein Liebesdreieck nutzt sich am Leben ab
Was man im Deutschunterricht nicht lernt: Friedrich Schiller, Verfasser der "Räuber" und Rufer nach Gedankenfreiheit, hatte ein heimliches Liebesverhältnis mit zwei Schwestern. Die eine davon – Charlotte von Lengefeld – heiratete er; mit der anderen – der verheirateten Caroline von Beulewitz (temperamentvoll gespielt von Hannah Herzsprung) – unterhielt er eine Liebes- und Schreibgemeinschaft. Unter Schillers Mentorenschaft verfasste Caroline erfolgreich Fortsetzungsgeschichten. Regisseur Dominik Graf erzählt das langsame Versickern einer ursprünglich lebendigen, vorurteilsfreien Liebe nicht als kostümschweres Melodram, sondern als Abnutzung am Leben.
INFO: Die geliebten Schwestern. D 2014. 138 Min. Von Dominik Graf. Mit Hannah Herzsprung, Florian Stetter.
KURIER-Wertung:

Rüde Scherze von Jim & Jeff
Zum Glück unterliegt Dummheit keiner Altersbeschränkung, weshalb Jim Carrey und Jeff Daniels (der immer mehr wie Otto Waalkes aussieht) problemlos dort weitermachen können, wo sie vor 20 Jahren aufgehört haben. Als Freundespaar Lloyd Christmas und Harry Dunne haben sie sich auch jenseits der 50 ein lausbübisches Gemüt bewahrt und sind bestens geeignet, ihre unvorbereiteten Zeitgenossen durch rüde Scherze in den Wahnsinn zu treiben.
Originalität kann man den regieführenden Farrelly-Brüder diesmal allerdings bloß bedingt bescheinigen, denn sie sind in die Fortsetzungs-Falle gegangen und haben sich eine Geschichte ausgedacht, bei der sie die alte Vorlage von 1994 nur etwas modifizieren mussten, aber ansonsten ganz nahe am Original geblieben sind.
Dem großen Vergnügen tut das gleiche Handlungsschema aber keinen Abbruch: fast alle Witze zünden und man würde durchaus noch dümmehrere Teile vertragen. Hoffentlich sehen wir die zwei großartigen Dumm-Köpfe nicht erst zu einem Zeitpunkt wieder, wenn sie dem mentalen Vorschulalter endgültig entwachsen sind.
KURIER-Wertung:
Infos: "Dumm und dümmehr". USA 2014. Bobby und Peter Farrelly. Mit Jim Carrey, Jeff Daniels, Kathleen Turner.

"Wie schreibt man Liebe" Tragikomödie Endlich wieder eine romantische Komödie mit Hugh Grant. Als glückloser Drehbuchautor nimmt er einen Lehrerjob an einer US-Hochschule an und steigt noch vor Unterrichtsbeginn mit seiner Studentin ins Bett. Die pikierte Kollegin darf sich in ihrer Empörung als frigide Streberin blamieren. Zum Glück gibt es Marisa Tomei, die dem von so viel politischer Korrektheit verwirrten Briten mütterliche zur Seite steht. Beschränkte Komödie.
"Ruhet in Frieden" Thriller Liam Neeson watet in diesem blutigen Noir Pulp durch die Serienmorde eines irren Killers. Ultra-brutales B-Movie, dass von seinen düsteren Stimmungen lebt.
"Ich darf nicht schlafen" Thriller Jeden Morgen wacht Nicole Kidman auf und hat über Nacht vergessen, wer sie ist. Auch den Mann neben sich im Bett kennt sie nicht. Es ist Colin Firth – aber ist er ein Guter? Verquaster, elendslangweiliger Thriller.
"Das Salz der Erde" Doku Charismatische Doku von Wim Wenders über den brasilianischen Fotografen Salgado.
"Bevor der Winter kommt" Drama Daniel Auteuil spielt einen Mann in der Ehekrise. Seine Frau: Kristen Scott Thomas.
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