Literatur 2019: Ein seltener Blick in dier Welt von morgen

Literatur 2019: Ein seltener Blick in dier Welt von morgen
Die Bücher sind voll Liebe, Familie und Natur. Nur wenige Autoren wagen einen Blick in die Zukunft – die schön sein kann. Schrecklich schön

Es wird heuer einen neuen Roman von Julian Barnes über die Liebe geben („Die einzige Geschichte“, schon im Februar, große Vorfreude), und Neues von Siri Hustvedt wird erscheinen, von Vea Kaiser, Sibylle Berg, Nell Zink, Alina Brodsky und schon wieder etwas von der geheimnisvollen Elena Ferrate.

Sowie, jetzt zu den Männern, von Claudio Magris, Ian McEwan, Bret Easton Ellis, Jonathan Franzen (kein Roman, sondern  Essays und Reden über eine Welt, in der alles stirbt, und trotzdem wächst neue Liebe), Gerhard Roth, Ferdinand von Schirach, Heinrich Steinfest, Kurt Palm  – „Tatort“-Kommisar Axel Milberg hat den Roman seiner Kindheit  geschrieben („Düsternbrook“), und Josefstadt-Schauspieler Michael Dangl - Foto oben, aus "Der Bauer als Millionär" -, als Schriftsteller schon bewährt, wechselt  „Im Rausch“  ständig zwischen der Theaterbühne und der Bühne des Lebens.
Aber ...

Es wird, man hat es schon vernommen, viel Liebe geben und  viele Familiengeschichten, in denen sich die Tochter gegen das Unheil stemmt und der Sohn vor die Hunde geht und der Vater träumt und die Mutter nicht weiß, wie sie alle aushalten soll; und immer mehr Bücher über die Wunder der Natur kommen 2019 in den Handel, sogar ein ganzes Buch nur darüber, wie Tiere furzen, und wie man lieb zu Maulwürfen ist und sie fängt, ohne ihnen weh zu tun. Wird gut sein für jene Gärtner, die verbotene Schießanlagen aufbauen, bloß um einen schönen Rasen zu haben.

Keine Wimmerln

Aber von den rund 30.000 Romanen und Erzählbänden dieses Jahres haben wieder nur wenige den Mut und schauen in die Zukunft. Sibylle Berg macht es in „GRM“: Wer sich einen Chip einpflanzen lässt, bekommt ein Grundeinkommen.

Muss ja nicht der Weltuntergang beschrieben werden. Eine „bessere“ Dystopie als bei Margaret Atwood oder Cormac McCarthy wird man ohnehin nicht finden.
Kann ja eine  wunderbare Utopie sein, in der Art: In der Früh pickt man sich Haftschalen in die Augen, ganz besondere. Damit können alle selbst bestimmen, ob sie einen blauen Himmel sehen wollen – trotz schwarzer Wolken.

Und dann haben die Kollegen / Gesprächspartner / Leute im Supermarkt keinen schiefen Zahn, nie schmutzige Fingernägel, nie ein Wimmerl auf der Nase und nie ein völlig unpassendes Hawaiihemd.
Leider.

Das Leben wird gleichgeschaltet, geschönt. So ist das in „Der Würfel“ , dem kommenden Roman des  Journalisten, Juristen und Bürgerrechtlers Bijan Moini. Er ist Deutscher mit iranischen Wurzeln. „Der Würfel“  fällt in den Frühjahrsprogrammen der Verlage aus der Reihe und angenehm (unangenehm) auf. Moini sagt: „Eine bessere Zukunft gibt es nur um den Preis unserer Freiheit.“

In fast allen EU-Staaten ist es schon so (im Buch): Es gibt zwar ein Parlament, aber seit langer Zeit keine Wahlen mehr. Die Staatsform ist der Kubismus, ein Algorithmus – genannt: der Würfel – durchleuchtet und lenkt die Menschen.

Bijan Moini: „Die meisten sind glücklich und zufrieden. Nur die wenigen Humanisten – und damit wohl auch die meisten Leser – tun sich schwer mit der Welt des Würfels.“

Antikubistisch

Social Media als Vorstufe: Nun schauen Drohen ungeniert bei den Fenstern hinein, sie registrieren, was miteinander geredet wird, wann es Sex gibt, ob der Käse vom Hofer oder vom Meinl am Graben ist und ziehen daraus Schlüsse ...

Zitat aus dem Buch:  „Der Würfel war überall:  in Drohnen am Himmel, in Fahrzeugen auf der Straße, in Kameras, Mikrofonen und Sensoren an Kleidern, Körpern und Gebäuden ... Er lauerte gierig auf eine Schwäche, eine unüberlegte Äußerung, eine unwillkürliche Geste, eine Gefühlsregung.“
Nur wenige kleben schwarze Folien auf ihre Fensterscheiben. Das ist zwar nicht verboten. Aber wenn „der Würfel“ nicht in der Lage ist, dich zu durchschauen  und deine nächsten Schritte vorherzusagen, gibt es keine Gutpunkte.

An die 80 sollten brave Bürger haben, dann bekommen sie gute Jobs und ein höheres Einkommen. Unter 50 gilt man als Offliner und muss regelmäßig zur Polizei, wo man davor warnt, in den Terrorismus abzugleiten. Auch hält man ihnen Vorstrafen vor: Demonstrieren heißt jetzt „Chaosstiften“ und ist antikubistisch.
Menschen, die sich der Beobachtung entziehen, machen es dem Würfel schwieriger, das Gesamtsystem zu berechnen und die Einwohner zu dirigieren. Sind sie deshalb verachtenswürdig?

Bijan Moini ist gar nicht so düster. Genau das interessiert ihn:  Fragen will er diskutieren, die eine selbstverschuldete Unmündigkeit aufwirft. Es geht nicht darum, dass eine künstliche Intelligenz den Personen ein Messer an den Hals setzt. Die Mehrhheit hat sich bei den (aller)letzten Wahlen für diesen Kubismus entschieden.
Moini: „Wie sieht die Welt aus, in der wir unsere Determiniertheit akzeptieren und sogar von ihr profitieren? Könnten wir denn eine solche Welt überhaupt wollen?“


„Der Würfel“ von Bijan Moini (Atrium Verlag, 412 Seiten, 22,70 Euro) erscheint am 28. Februar.

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