Kunstforum Wien: Besondere Frauen zeigen Muskeln

Kunstforum Wien: Besondere Frauen zeigen Muskeln
Die Ausstellung „Flying High“ bietet einen geballten Überblick über Künstlerinnen der Art Brut

Noch vor der zentralen Ausstellungshalle empfangen Bodybuilder die Besucherinnen und Besucher. Die knallbunt auf Papier gemalten Menschen – mit riesigem Bizeps und strammen Waden, doch nicht immer eindeutig Mann oder Frau – sind für die Kubanerin Misleidys Castillo Pedroso Kontaktpersonen zur Welt. Denn Pedroso, die gehörlos zur Welt kam und Autistin ist, spricht nicht. Dafür baut sie mit ihren Figuren, die sie mit Klebeband an die Wände heftet, eine eigene Welt.

Dass Menschen, die in anderen Kontexten unsichtbar wären, sprichwörtlich Muskeln zeigen und sich in die öffentliche Wahrnehmung katapultieren, ist ein wiederkehrendes Motiv der „Art Brut“, die manchmal auch als „Outsiderkunst“ oder „zustandsgebundene Kunst“ firmiert – jeder dieser Begriffe wird kontrovers diskutiert, doch das nur nebenbei.

Die Schau „Flying High – Künstlerinnen der Art Brut“ im Bank Austria Kunstforum (bis 23. 6.) baut jedenfalls auf dem Umstand auf, dass die von Autodidakten geschaffene Kunst, die oft im Kontext von Betreuungsanstalten entstand, heute einen eigenen Kanon, eigene Institutionen und einen eigenen Markt hat. Doch sie weist zugleich auf die Lücken dieser Infrastruktur hin: Frauen, sagt Kunstforum-Chefin Ingried Brugger, seien lange als „Außenseiterinnen der Außenseiter auf die letzten Plätze verwiesen“ worden.

Gemeinsam mit der Sammlerin und Art-Brut-Expertin Hannah Rieger hat Brugger also das Genre nach weiblichen Positionen durchforstet und zu einer imposanten Überblicksschau montiert. Auch wenn der Parcours nicht chronologisch aufgebaut ist, sondern sich an den Beständen von vier großen  Art-Brut-Sammlungen orientiert, ergibt sich daraus eine schlüssige „andere“ Kunstgeschichte. Und wenngleich Traumata und Krankheiten nicht zu negieren sind, sieht man auch kulturelle Prägungen und Zeitstile.

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Museale Erkundungen

In der Sammlung von Hans Prinzhorn – jenes Mannes, der mit seinem Buch „Bildnerei der Geisteskranken“ (1922) die Initialzündung zur Entdeckung künstlerischer Paralleluniversen gab – findet sich etwa ein Tablett mit zwei Gefäßen, das Hedwig Wilms 1913–’15 in minutiöser Häkelarbeit anfertigte. Dass es mehr ist als bloße Handarbeit, erschließt sich, wenn man erfährt, dass Wilms in der Anstalt Buch bei Berlin zwangsernährt wurde, bevor sie 1915 mit 29 Kilo Körpergewicht starb: Ein Kännchen am Tablett bildet zweifellos das Gerät nach, mit der der Patientin Nahrung eingeflößt wurde.

Die Geschichte von Entmündigung, inadäquater Versorgung und auch von Missbrauch wiederholt sich in vielen Biografien, die aber in der betont reduzierten Ausstellungsgestaltung nur in einem Heftchen nachgelesen werden können: Die Werke sollen sprechen, zu den Personen werden im Saal nur Namen und Lebensdaten geliefert – sofern man diese kennt. Während etwa Else Blankenhorn (1873– 1920) aus großbürgerlichem Hause stammte und sich mit ihrem selbstgemalten Geld ebenfalls als Mäzenin verstand, ist etwa von „Katharina“, die in den 1960ern akribisch beschriftete anatomische Zeichnungen anfertigte, nur der Vorname überliefert.

Katharinas Blätter gelangten in die Sammlung von Jean Dubuffet, der den Begriff „Art Brut“ prägte und auch andere Frauen wie Aloïse Corbaz entdeckte. Dubuffets Kollektion hat in der Schau breiten Raum, jene aus Gugging spielt eher eine Nebenrolle – war die Abteilung, die unter dem Psychiater Leo Navratil zum Kunstzentrum wurde, doch eine Männerstation.

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Neuer Umgang

Heute können auch Frauen im Gugginger „Haus der Künstler“ arbeiten (aber nicht wohnen). Generell hat sich der Umgang mit der Kreativität von Menschen mit besonderen Bedürfnissen gewandelt, ist offener, professioneller, teils auch marktorientierter geworden. Der letzte Teil der Ausstellung erzählt davon und präsentiert Beispiele aus China, Japan oder Brasilien. Wer bei Art Brut über Mündigkeit und asymmetrische Machtverhältnisse nachzudenken beginnt, wird es auch hier tun. Doch zugleich wird das starke Plädoyer für die Würde, die auch und gerade Benachteiligte durch künstlerisches Tun erlangen können, nicht zu ignorieren sein.

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