Choreograf Akram Khan: "Stehen am Beginn des Endes der Zivilisation, wie wir sie kennen"

Eine Gruppe von Tänzerinnen in grauen Kleidern führt eine synchrone Choreografie auf.
Der Choreograf und Tänzer Akram Khan zeigt seine Arbeit „Thikra“ in Wien. Im Interview spricht er über das Zusammenleben der Kulturen und die Bewahrung des Erbes der Menschheit.

Von Silvia Kargl

So weltweit verankert wie der in London als Sohn von Einwanderern aus Bangladesch geborene Choreograf und Tänzer Akram Khan arbeitet kein anderer der renommierten Choreografen. Seine Choreografien und Inszenierungen verbinden Künstlerinnen und Künstler aller Erdteile. Bei ImPulsTanz ist bis Freitag sein neuestes Stück „Thikra: Night of Remembering“ zu sehen.

KURIER: Ihr neues Stück entstand in der Wüstenlandschaft um die antike Oase Al Ula im Nordwesten Saudi-Arabiens, einer Stadt, die an einer Handelsroute lag und Objekte aus 200.000 Jahren Menschheitsgeschichte bewahrt. Wie kam dieses Projekt zustande?

Akram Khan: Ich kam auf eine Einladung dorthin und wollte die Gegend und ihre Menschen kennenlernen. Darunter war die Künstlerin Manal Al Dowayan, die mich mit der von Frauen geprägten Kultur Al Ulas zusammenbrachte. Ihr Ritual der Erinnerung an unsere Vorgänger hat mich fasziniert. So entwickelten wir gemeinsam ein erzählerisches Konzept für ein Stück. Was ich für die Kooperation ausgeschlossen habe, sind Bezüge zur gegenwärtigen Politik Saudi-Arabiens.

Wie reagierte die lokale Bevölkerung bei der Uraufführung Ihres Tanztheaterstücks am originalen Schauplatz unter dem Sternenhimmel der Wüste?

Sie war in die Aufführung einbezogen. Das Spielen und die Zeichensprache mit den langen Haaren habe ich im Stück aufgegriffen, und am Beginn gab es eine Prozession der Frauen, die für das Stück Vorbilder waren. Sie waren am Ende sehr gerührt und betroffen, dass wir ihre Geschichte aufnehmen und in der Kunst von ihnen lernen wollen.

Ein Mann mit Bart gestikuliert während einer Veranstaltung zum Thema Tanz und Kultur in Frankreich.

Ihre Arbeit ist vom kulturellen Dialog geprägt. Ist dieser in der Gegenwart schwieriger geworden?

Es ist noch wichtiger geworden, zurück zu den Wurzeln zu gehen, neugierig auf anderes zu bleiben. So schwierig es meine Familie nach der Immigration aus Bangladesch in London hatte – wir haben in einer wirklich „schlechten“ Umgebung in London gewohnt –, so hat das Zusammenleben von mindestens 20 Nationalitäten vor vierzig Jahren dort funktioniert. Natürlich galt das nicht für ganz Großbritannien, so wie Al Ula jetzt nicht für Saudi-Arabien stehen kann. Ganz wichtig ist mir, und das auch bei meinen langjährigen Arbeitsprozessen, der direkte Kontakt zu den Menschen. Ich glaube, wir stehen heute am Beginn des Endes der Zivilisation, wie wir sie kennen. Diese Zeit ist mit viel Gewalt verbunden. Eine große Mehrheit der Menschen ist heute machtlos. Umso wichtiger ist die Bewahrung und der Respekt vor unserem kulturellen Erbe, das Menschen zusammenbringen kann. Ohne meine Frau und unsere drei Kinder wäre es schwer für mich, optimistisch in die Zukunft zu blicken.

Kürzlich haben sie angekündigt, die Tätigkeit Ihrer Compagnie mit diesem Stück bis 2027 einzustellen. Hat das mit Ihrem schwindenden Optimismus zu tun?

Ich suche neue Strukturen für meine Arbeit. Meine Stücke haben oft viele Mitwirkende, in unserer jetzigen Form sehe ich keine Zukunft. Ich werde eine Tür schließen und gleichzeitig eine neue öffnen, auch aus persönlichen Gründen möchte ich länger an einem Ort bleiben. Ich denke daran, mit meinem Team in Zukunft drei Jahre an einem Ort zu sein, und mich mit den Künstlerinnen und Künstlern dort auszutauschen. Ich werde daneben weiterhin Stücke kreieren, in Zukunft zum Beispiel „Pinocchio“ mit einem Zirkus in Prag oder ein „Lady Macbeth“-Ballett für das Königlich Dänische Ballett.

Bereits 2001 waren Sie mit vier Stücken bei ImPulsTanz. Erinnern Sie sich an Ihren ersten Aufenthalt in Wien?

Ich war beeindruckt von der Liebe der Menschen zum Theater, zur Musik, zum Tanz. Es ist mir aufgefallen, dass das Publikum wie in Indien reagierte – es gab eine Spaltung zwischen traditionellem Publikum und jenem für zeitgenössische Kunst. Dabei geht es doch nur um Qualität!

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