Ein Spiel mit der Zeit

Schräg und schrill: Mit William Kentridges „Refuse the Hour“ zeigt ImPulsTanz im Volkstheater ein hinreißend originelles Stück des vielseitigen Künstlers aus Südafrika (noch zu sehen am 3. und 4. August). Und sprengt ein weiteres Mal den Rahmen eines Tanzfestivals, geht es doch bei Kentridge um eine multimediale Kammeroper zu seiner viel beachteten Fünf-Kanal-Videoinstallation „The Refusal of Time“ bei der dOCUMENTA (13) in Kassel 2012.
Große Trommel
Mit einem Trommelwirbel entführt Kentridge das Publikum in sein verrücktes Theater. In Kentridges Zaubergarten ist die große Trommel eine Uhr, hängen die Schlaginstrumente vom Schnürboden, hat Philip Miller eine ungewöhnlich orchestrierte Musik mit wundersamen Instrumenten wie einer Hornvioline komponiert. Sechs Musiker, zwei Sängerinnen und ein Sänger sorgen für rhythmisch akzentuierte Zwischenspiele, Sprechgesang und Arien mit südafrikanischen Einflüssen.
Bilder des ImPulsTanz 2013
Böses Orakel
Der unsichtbare Hauptdarsteller ist die Zeit. Vom ersten Schlag an faszinieren Kentridges Einfälle. So erzählt er eine Episode aus seiner Kindheit, als sein Vater ihm die Sage von Medusa und Perseus vorlas. Plötzlich ist das Theater politisch, bricht Kentridge mit dem Mythos und hadert mit dem ungerechten Ausgang, der todbringenden Erfüllung eines Orakels. Hätte Perseus den Mord an seinen Großvater nicht verhindern können? „Jede Entscheidung war falsch“, lautet das Resümee.
Also wird das Universum fortan von Zufällen beherrscht. Installationen, Maschinen, Requisiten erwachen zu einem kuriosen Eigenleben, Chronometer geraten aus dem Takt, Videos von Kentridge und Catherine Meyburgh sorgen für ein sich permanent änderndes Bühnenbild. Auch die Darsteller verwandeln sich, manchmal scheinen Figuren aus Oskar Schlemmers legendärem „Triadischem Ballett“ auferstanden zu sein, Kentridge zeichnet sein Porträt als Kaffeekanne.
Kleines Manifest
Dada Masilo ist in diesem Stück Tänzerin und Choreografin. Komik durchdringt Szenen, in denen das Rad der Zeit zurückgedreht wird. Kentridge wiederholt manifestartige Texte, Masilo dreht ihre Choreografie um, Videos lösen sich auf, und doch: nichts verschwindet wirklich, alle Materie taucht wieder auf, Einsteins Theorien definieren das szenische Geschehen.
Kentridge spielt auf die Gleichschaltung von Uhren an, die 1884 mit der Greenwich Mean Time begann. Eine europäische Systematisierung also, der man sich in Südafrika nicht beugen wollte. Nahtlos gleitet das Stück in eine weitere Ebene, treten die südafrikanischen Darsteller in den Vordergrund, lassen sich nicht vom Diktat der europäischen Uhr vereinnahmen. Erinnerungen an den Kolonialismus und an die Apartheid werden wach. Großes Theater, das von Komik zur Tragik gleitet und nichts verschweigt.
Bewertung: Unfassbar klug, federnd leicht, politisch zugespitzt, musikalisch hinreißend – ein furioses, virtuoses Spiel mit der Zeit und mit dem Theater an sich. Bitte mehr davon!
KURIER-Wertung: ***** von *****
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