Harte Sozialkritik in betörenden Bildern

Ismael Ivo, Mitbegründer von ImPulsTanz, ist ein Meisterchoreograf im Fach Tanztheaterregie mit Ausgangspunkten in Literatur und Kunstgeschichte. Auch sein neues Stück "Eréndira" begeistert im Volkstheater als tänzerische wie dramatische Erzählung nach einer Geschichte des im April verstorbenen Dichters Gabriel García Márquez.
Dabei spürt Ivo nicht nur dem Inhalt der literarischen Vorlage nach. Darüber hinaus schildert er die Welt des "Magischen Realismus" von Márquez, der zauberhafte Elemente in oft grausame Realitäten integrierte. Ivo widmet das Stück "all jenen Kindern, die ihrer Kindheit beraubt werden".
Das Anprangern sozialer Missstände wird zum zentralen Thema des diesjährigen ImPulsTanz Festivals: Menschen, die auf einer brasilianischen Müllhalde leben bei Alain Platel, Männer ohne Zukunft auf der Suche nach Liebe bei Lloyd Newson und nun Mädchen, die zur Prostitution gezwungen werden, bei Ismael Ivo.
Menschliche Tragödien
Meist sind es die nahestehenden Familienmitglieder, die am Beginn der menschlichen Tragödien stehen. Bei Eréndira ist es die herzlose Großmutter, wunderbar exzentrisch und exaltiert gespielt von der brasilianischen Schauspielerin Cleide Queiroz. Ein ambivalenter Charakter in fantastischen Kostümen von Gabriele Frauendorf, freundlich zu potenziellen Kunden, brutal gegenüber Mädchen und surreal als zigarrenrauchende Königin in der Badewanne.

Dazu zeigt Ivo die 30 Mitglieder, Studentinnen und Studenten der Biblioteca Do Corpo, in unterschiedlichen Rollen. Manchmal in allegorischen Szenen als Leidende und Suchende, dann als Menschen zwischen Missbrauch und heftigen Emotionen. Wie viel sie in den vergangen Wochen gelernt haben, zeigt die Bandbreite an Tanzstilen, die Ivo einfließen lässt, von Tanztheater bis zu Ballett, von Forsythe bis zu Vandekeybus.
Überzeugend die Solisten, insbesondere die naive Eréndira in einer Vergewaltigungsszene, in der die Gefühlswelt der Protagonistin Vorrang hat gegenüber der Realität. Eine Figur begleitet diese Schlüsselszene, es ist Ulysses aus der Márquez-Erzählung.
Als Bühnenbild schuf Marcel Kaskeline ein Gerüst, das an Armut und Gefängniszellen erinnert. Im Halbdunkel bei Kerzenlicht entfacht dieser Raum eine mystische Stimmung, hell erleuchtet wirkt er als Bedrohung. Am Ende steht ein Bacchanal, in dem von einer goldenen Zukunft geträumt wird. In einer Orangenorgie werden die Früchte getreten, zerquetscht, gegessen, zerstört, lassen die Körper gleichzeitig glänzen und versprühen ihr Aroma bis ins Publikum. Gleichzeitig verschüttet Eréndira Wasser aus der Badewanne ihrer Großmutter – die Geschichte von Unterdrückung und Opferung geht weiter.
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