Großes iranisches Kino: Alle sind schuldig

Großes iranisches Kino: Alle sind schuldig
Filmstarts: Berlinale-Sieger "Nader & Simin" seziert eine Ehe und ein Land + Sarah Jessica Parker hat Karriere und Kopfläuse + Arthur steht auf Weihnachten

Asghar Farhadis großer Berlinale-Sieger erzählt meisterlich eine Ehegeschichte und seziert wie nebenbei das Land, aus dem er kommt: den Iran.

Ein alter Mann, an Alzheimer erkrankt, macht in die Hose. Die Frau, die ihn erstmals zu Hause betreut, weiß, dass sie diese Hose nun wechseln muss. Aber darf sie es?
Die Pflegerin ruft die Religions-Hotline an und fragt ängstlich nach. Und wenn das jetzt auch nach Komödie klingen sollte: Der mit drei Bären preisgekrönte Film des Iraners Asghar Farhadi ist hohe, allerhöchste Filmkunst.

Hier wird erzählt, wie man es aus iranischen Filmen kennt: mit distanzierter Kamera, die aufnimmt, was sich zuträgt. Jeder Zwischenton, jeder Halbsatz, jedes Kopftuch, jeder Augenaufschlag, jede Wahrheit und Halbwahrheit kann hier von Bedeutung sein. Allein wie Simin ihr Kopftuch trägt, erzählt schon eine Geschichte: Lose hat sie es um ihr Haar drapiert, mehr schmückender Schal, der ihr Gesicht umspielt, als strenge religiöse Bekleidung. Diese emanzipierte Frau will raus aus dem Land, mit Mann und Tochter und Visum, ein neues, besseres Leben beginnen. Doch ihr Ehemann will nicht mehr. Er will wegen seines an Alzheimer erkrankten Vaters bleiben.

Und so stehen die beiden gleich am Anfang des Films vor dem (unsichtbaren) Scheidungsrichter, diskutieren vor der Kamera und bringen uns Zuschauer in jene Position, die wir während des gesamten Films nicht mehr verlassen und nicht vergessen werden: Wir sind in diesem Fall die Richter. Wir schauen diesem Prozess um eine Mittelstands-Ehe zu und auf ein Bündel moralischer Fragen.

Denn Simin zieht wütend aus der Wohnung aus, die 13-jährige Tochter bleibt beim Vater. Eine Pflegerin wird engagiert, um sich um den alten, kranken Mann zu kümmern. Als Nader eines Tages nach Hause kommt, findet er seinen Vater allein und im Bett gefesselt. Er stellt die Pflegerin zur Rede und wirft sie schließlich zur Türe hinaus. Diese stürzt, verliert ihr Kind, mit dem sie schwanger war, und alle landen vor dem Richter.
Wer ist nun schuld an dem Unglück? Hat Nader die Frau geschlagen? Wusste er, dass sie schwanger war? Hat sie ihre Pflicht verletzt? Hätte sie nicht arbeiten dürfen?
Im Feilschen um die Wahrheit schieben sich nun die Menschen gegenseitig die Schuld zu. Hier die urbane Mittelstandsfamilie, da die arme, religiös konservative Familie der Pflegerin, deren Mann arbeitslos ist.

Ja, "Nadir & Simin- Eine Trennung" besteht aus einem wahrhaft virtuosen Geflecht an Anschuldigungen und Verteidigungen, Vertrauen und Zweifel, Lügen und Wahrheiten. Am Ende gibt es drei Gerichtsprozesse und alle werden an sich selber zurückverwiesen. Die Menschen in diesem Land, das hier wie nebenbei seziert wird, müssen sich Gerechtigkeit selbst ausmachen.

Brillant gelingt es Farhadi, dieses Alltagsdrama um Schuld und Sühne immer fester zuzuschrauben, im richtigen Moment die richtigen Facetten der Wahrheit freizulegen. Am Ende hat man den Menschen dabei zugeschaut, wie sie einander verlieren. Der Zuschauer, er ist ein recht ratloser Richter. Denn am Ende sind alle schuldig.

Veronika Franz


KURIER-Wertung: ***** von *****

INFO: DRAMA , Iran 2011. 123 Min. Von Asghar Farhadi. Mit P. Moadi, Leila Hatami.

"Der ganz normale Wahnsinn - Working Mom" - Karriere mit Kopfläusen

Sarah Jessica Parker leidet als erfolgreiche Fondsmanagerin unter der Doppelbelastung von Bilderbuchkarriere und Vorzeigefamilie. Ausgestattet mit dem Charme eines kleinen Mädchens und dem Designer-Outfit der Schwerverdienerin, stresst sie sich mit Kopfläusen durch ihr Bostoner Oberschichtsleben. Saccharinsüße Hollywood-Komödie mit viel stereotypem Gender-Geplänkel. -as

KURIER-Wertung: *** von *****

INFO: KOMÖDIE, USA 2011. 89 Min. Von Douglas McGrath. Mit Sarah Jessica Parker.

"Arthur Weihnachtsmann 3D" - Smarter Einsatz der Elfen

In bester "Mission Impossible"-Manier seilen sich Elfen an Hausmauern ab, hinterlegen lautlos ein Geschenk für ein Kind und verschwinden wieder: Ein perfekter Weihnachtseinsatz, gesteuert aus der Kommandozentrale des Weihnachtsmanns. Als ein Kind vergessen wird, springt Arthur, Sohn des Weihnachtsmanns, ein. In Kollaboration mit den Aardman Studios entstand ein witzig-spritziges Weihnachtsabenteuer, dessen smarter Humor Kinder und Erwachsene adressiert. -as

KURIER-Wertung: ***** von *****

INFO: ANIMATION , USA 2011. 99 Min. Von Sarah Smith.

"Mörderschwestern" - Per Knopfdruck Mord

"Jo, wir san mi'm Radl do", singen grinsende Greise, die auf ihren Spitalsbetten sitzen und dabei lustig mit den nackten Beinen strampeln. Viel zu lachen haben sie insgesamt nicht in Peter Kerns Low Budget-"Mörderama" - einer interaktiven Satire auf den österreichischen Pflegeskandal rund um die berüchtigten "Mörderschwestern".

Damals, Ende der 80er Jahre, töteten vier Pflegerinnen im Lainzer Krankenhaus zahlreiche Patienten. Kern nimmt diesen realen Vorfall zum Anlass, um sich mit österreichischer Gleichgültigkeit auseinanderzusetzen. Mörderschwester Tabea - mit ungebrochenem Verve gespielt von Susanne Wuest - beschimpft mit direktem Blick in die Kamera das Kinopublikum, indem sie es mit ermüdender Ausdauer als Beutelratten beleidigt. Per Knopfdruck sollen die Zuseher entscheiden, wer als nächstes von den Mörderschwestern ums Eck gebracht werden soll.

Der alte, schöne Grande Helmut Berger hat einen berührenden Auftritt als bettlägriger Doktor Schleier, und auch Regisseur Kern brilliert zwischendurch als hervorragender Schauspieler seines eigenen Werks. Übrigens: Erst kürzlich hat Kern bei den Hofer Filmtagen den Filmpreis der Stadt Hof erhalten.

Alexandra Seibel

KURIER-Wertung: *** von *****

INFO: SATIRE, Ö 2011. 85 Min. Von Peter Kern. Mit Susanne Wuest, Helmut Berger, Kathrin Beck.

KINO IN KÜRZE

"Fenster zum Sommer"
Fenster zum Sommer... klingt nach Hitchcock, ist aber leider nur halb so gut. Nina Hoss (die ist schon ganz gut) als Frau, die Monate ihres Lebens nochmals leben muss. Arthouse-Kino, das bedeutender sein will, als es ist. - V.F.

KURIER-Wertung: *** von *****


"Noise and Resistance"
Musik als Weg, "Nein" zu sagen: Ob Hausbesetzer aus Barcelona, Antifaschisten in Moskau oder Wagenplatz-Bewohner in Berlin, die Punkmusik eint sie alle. Kluge Doku über Punk als Kultur einer Widerstandsbewegung. - V.F.

KURIER-Wertung: *** von *****

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