Gratisbuch-Autorin Mantel: „Der Brexit ist eine Katastrophe“

Gratisbuch-Autorin Mantel: „Der Brexit ist eine Katastrophe“
Hilary Mantel im Interview über Lehren aus der Geschichte, aktuelle Politik und Lust am Schreiben. Von Susanne Lintl.

Zum Auftakt der Stadt-Wien-Aktion „Eine Stadt. Ein Buch“, bei der ihr Roman „Jeder Tag ist Muttertag“ zu 100.000 Stück verteilt wird, ist Dame Hilary Mantel in die österreichische Hauptstadt gekommen.

Im Wiener Rathaus signierte die vielfach ausgezeichnete britische Autorin ihr schwarzhumoriges Buch über eine Mutter, die mit ihrer zurückgebliebenen Tochter in einem alten Geisterhaus lebt. „Ich war erstaunt, dass ich für diese wunderbare Aktion der Stadt Wien ausgewählt wurde und noch erstaunter, dass ausgerechnet mein allererstes Buch aus dem Jahr 1985 dafür ausgewählt wurde“, zeigt sich Mantel angetan.

„Aber vielleicht fiel die Wahl auf ‚Jeder Tag ist Muttertag‘, weil ich das Buch wie eine Art Märchen in keinen bestimmten Zeitzusammenhang stellte. Dieser Mutter-Tochter-Konflikt hat etwas Zeitloses, Archetypisches. Und das Phänomen Seitensprung natürlich auch.“

Cromwell

Berühmt wurde Hilary Mantel für ihre epische literarische Beleuchtung der Person Thomas Cromwells, des Günstlings und späteren Kanzlers von König Heinrich VIII., die ihr weltweites Ansehen eintrug.

„Ich wollte schon immer über ihn schreiben, aber ich fühlte, dass ich warten musste. Manche Geschichten brauchen Zeit und erfordern persönliche Reife. Mein erstes historisches Buch war eines über die Französische Revolution, das ich in meinen Zwanzigern verfasste, das aber keiner drucken wollte. Also besann ich mich auf meine Erlebnisse als Sozialarbeiterin und schrieb erst einmal ‚Jeder Tag ist Muttertag‘. Aber Cromwell ließ mich nicht los, er gärte in mir. Dann war die Zeit gekommen, dass seine Geschichte aus mir raus musste. Der fulminante Erfolg der Trilogie hat mich dann natürlich überrascht. Wobei ich glaube, dass die Leute primär an diesem Tudor-Thema interessiert waren und nicht so sehr an meiner Schreibe.“

Für die Schwachen

Dass Geschichte sich wiederholt und ihre negativen Ausprägungen immer im Hinterkopf behalten werden müssen, davon ist die 66-Jährige, die mit ihrem Mann, einem Geologen, in Botswana und Saudi-Arabien lebte, überzeugt: „Nehmen Sie die Einstellung vieler Menschen zu Armut und Immigration: Wir sind heute wieder dort, wo wir im 19. Jahrhundert waren. Damals wurden Menschen für ihre Armut geächtet und ihr Elend wurde als ihre eigene Schuld betrachtet. Dann folgte Gott sei Dank eine Zeit der Aufklärung, die soziale Errungenschaften und bessere Lebensumstände für den unteren Teil der Gesellschaft brachte. Aber diese aufklärerische Sicht wurde in den letzten Jahren zusehends erschüttert: Es wird wieder das Individuum für seine Armut verantwortlich gemacht, nicht die Gesellschaft. Aber der Staat hat meiner Meinung nach die Aufgabe, sich auch um Schwache zu kümmern.“

Der Brexit ist für Mantel „ein Desaster, eine nationale Katastrophe. Es ist, als hätten wir den Krieg verloren.“

Verhindern

Die Effekte dieses Desasters würden noch für viele Generationen im Vereinigten Königreich spürbar sein. „Ich würde mir so sehr wünschen, dass man das Ganze noch verhindern, die Entwicklung umkehren könnte. Aber ich fürchte, das geht nicht mehr.“

Tut sie sich leicht mit dem Schreiben, fließen die Sätze nur so aus ihr heraus? – „Es kommt darauf an, was ich schreibe. Wenn ich einen historischen Roman schreibe, bin ich extrem strukturiert und halte mich an Recherchefakten. Anders ist es, wenn ich über mich selbst schreibe, über nichts Faktenbasiertes. Dann fühle ich mich frei und die Zeilen fügen sich rasch aneinander. Ich fange an zu schreiben und die Geschichte wächst. Die Charaktere füllen sich wie von Zauberhand mit Leben.“

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