2019 trafen sich Barbara Yelin und Emmie Arbel zum ersten Mal, danach hat sich die Comiczeichnerin über drei Jahre von ihr ihre Lebensgeschichte erzählen lassen. Arbel überlebte drei Konzentrationslager. Das Kriegsende erlebte sie in Bergen-Belsen. Ihre Mutter starb dort, die Großeltern wurden ermordet. Nach der Befreiung kam sie mit ihren beiden Brüdern in eine Pflegefamilie. Dort folgte das nächste Trauma: Der Vater – selbst Auschwitz-Überlebender – missbrauchte Emmie.
Nicht vorbei
Arbels Leben ist ein beklemmendes Dokument dafür, dass das Leid für viele nach der Befreiung keineswegs vorbei war. Emmie habe ihr schon früh in den Gesprächen von den Vergewaltigungen berichtet, erzählt Barbara Yelin. Damals aber wollte sie diese Informationen nicht im Buch wissen. Erst später habe sie entschieden, dass „das zu ihrer Geschichte dazugehört, so schwierig das auch ist. Sie sagte: ‚Das ist nur eins der schlimmen Dinge, die mir in meinem Leben passiert sind.‘“ Für Yelin war es nicht einfach, die Balance zwischen diesen schlimmen Dingen zu halten. „Ich zeige keine Bilder davon und respektiere ihre Grenzen.“
Die Graphic Novel macht deutlich, welche Kraftanstrengung die Erinnerungen von Zeitzeugen, deren Beitrag zur Aufarbeitung meist als selbstverständlich angesehen wird, bedeutet. „Das ist ein wahnsinnig anstrengender Prozess. Ich empfand das auch als große Verantwortung. Ich habe deshalb auch mit Trauma-Experten gesprochen. Ich habe mich von einer Professorin für Oral History beraten lassen, damit ich nicht irgendetwas Schmerzhaftes triggere. Die Professorin hat klar gesagt: Sie entscheidet, worüber sie reden möchte.“
Tatsächlich sind durch die Gespräche neue Erinnerungen bei Emmie hochgekommen. Das war der Punkt, als es Yelin etwas unheimlich wurde, „das war ein sehr empfindlicher, bestürzender Moment.“
Aber Emmie entschied, dass es ihr jetzt reicht. Die Erinnerung blieb vergraben.
Die Graphic Novel ist Teil eines Projekts, das die kanadische Wissenschafterin Charlotte Schallié ins Leben gerufen hat, um die letzte Chance zu nützen, die Geschichten der noch lebenden Zeitzeugen einzufangen. Ihre familiäre Situation hat sie auf die Idee gebracht: Schallié hat einen Sohn, der niemals Bücher lesen würde, aber Comics, die konsumiert er.
Yelin hat Emmie manchmal in den Gesprächspausen spontan gezeichnet. „Das fand sie nicht immer so toll“, sagt Yelin amüsiert. Eine Sequenz zeigt das sehr liebenswürdig, wenn die Porträtierte im Fauteuil der Zeichnerin die Zunge herausstreckt. Eine Katze geistert immer wieder durch die Bilder. Ins Haus von Emmie darf sie nicht – selbst bei strömendem Regen. Eine kleine Episode in ihrer Zeit im Kinderheim erklärt – vielleicht – die Strenge zu dem Tier. „Bilder können anders erzählen. Sobald ich Worte dafür verwende, wirkt es schon weniger stark.“
In einem früheren Buch („Irmina“) hat Yelin die Kriegsvergangenheit ihrer Großeltern thematisiert. „Mein Großvater ist im Krieg gefallen, er war in der Partei und bei der SS. Anhand seiner Frau, meiner Großmutter, habe ich mich semifiktional mit Mitläuferschaft, Mitwisserschaft und Mitverantwortung auseinandergesetzt.“ Sie habe Emmie gefragt, ob diese Familiengeschichte eine Rolle für sie spiele. „Sie hat ganz deutlich gesagt: ‚Du bist nicht deine Großeltern.‘“