"Die Raupe Nimmersatt": Geschichte eines gebrochenen Kindes

Mit der „Kleinen Raupe Nimmersatt“ wurde Eric Carle zum Bestsellerautor.
Der Illustrator und Kinderbuchautor Eric Carle wurde als Bub nach Nazideutschland verpflanzt. Er wird 90.

„Die kleine Raupe Nimmersatt“ machte ihn weltberühmt. Kinderbuch-Autor und Illustrator Eric Carle hat damit seit ihrem ersten Erscheinen 1967 Generationen von Kindern glücklich gemacht. Dabei hatte er selbst alles andere als eine glückliche Kindheit: Carle emigrierte als Sechsjähriger mit seinen Eltern nach Nazideutschland. Am Dienstag wird er 90 Jahre alt.

Der Umzug nach Deutschland erfolgte auf Wunsch der Mutter, die der NS-Propaganda von der angeblich sorgenfreien Welt im Dritten Reich aufgesessen war und Heimweh verspürte. Carle erinnerte sich mit Grauen: „Dieser Schulbeginn ist mir unvergesslich – ein kleines Klassenzimmer mit schmalen Fenstern, ein harter Bleistift, ein kleines Blatt Papier und die strenge Ermahnung, keine Fehler zu machen“, schrieb er über die Schulzeit in Stuttgart. Er vergaß die Schläge seines Lehrers mit dünnem, hartem Bambusstock sein Leben lang nicht.

Sprung als Kind

Bereits die Einschulung in Syracuse im Nordosten der USA sei ein einschneidendes Erlebnis gewesen: „Es ist ein riesiger Sprung, den ein Kind dann tun muss; der Sprung aus seinem Zuhause und aus der Sicherheit heraus, aus der Welt des Spiels und der Sinne in die Welt des Verstands und der Abstraktion, der Ordnung und Disziplin“, erklärte Carle. Diesen Abgrund habe er mit seinen Kinderbüchern überbrücken wollen – seit 1967 veröffentlichte er mehr als 100, die laut Gerstenberg Verlag in mehr als 70 Sprachen übersetzt wurden.

Collagen aus selbstbemaltem Seidenpapier wurden zu Carles Markenzeichen. Zu den Künstlern, die ihn beeinflusst haben, zählt er Paul Klee. Ein Zeichenlehrer machte den Gymnasiasten Carle heimlich mit den Werken moderner Künstler vertraut, welche von den Nazis als entartet bezeichnet wurden. Der Zeichenunterricht ist ohnehin einer der wenigen Lichtblicke in der verhassten Schule und den dunklen Zeiten.

Für seine berühmteste Geschichte von der gefräßigen Raupe, die nach der Verpuppung als wunderschöner Schmetterling erwacht, stanzte der Autor Löcher in die Seiten.

50 Millionen

Kinder können mit dem Finger selbst erleben, wie sich die Raupe durch Birnen und Erdbeeren, schließlich durch Schokoladenkuchen und Würstchen frisst. Alle dreißig Sekunden wird nach Angaben des Gerstenberg Verlags weltweit ein Exemplar des zuerst in den USA erschienenen Buches verkauft – mehr als 50 Millionen sind es bis heute. Die Wertschätzung für Tiere und Umwelt sei ein Grund, warum Carles Hauptwerk 50 Jahre nach seiner Veröffentlichung immer noch nicht aus Kinderzimmern wegzudenken ist, sagt der Literaturwissenschaftler

Arno Rußegger von der österreichischen Universität Klagenfurt. Er hat sich auf Kinder- und Jugendliteratur spezialisiert. Außerdem habe die Geschichte über die Zeit und kulturelle Grenzen hinweg Gültigkeit – und mache das Bilderbuch zum Klassiker: „Es geht um Selbstverwirklichung, Selbstermächtigung. Empowerment würde man heute sagen. Es ist nach wie vor notwendig, dass man sich selber positionieren kann im Leben – und diese kleine Raupe symbolisiert das.“

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