Fast wie eine Papstwahl: Berliner wählen neuen Chef

Die Wahl des neuen Chefs der Berliner Philharmoniker zieht sich hin. Am Montagnachmittag gab es zunächst noch keine Anzeichen für ein Ergebnis. Eine Sprecherin der Philharmoniker sagte zunächst, frühestens werde es um 16 Uhr Neuigkeiten geben. Die Verzögerung könnte ein Anzeichen für eine schwierige Entscheidungsfindung sein.
Die 124 Orchestermusiker hatten sich am Vormittag zur Abstimmung über die Nachfolge von Sir Simon Rattle im Jahr 2018 versammelt. Im Gespräch dafür waren unter anderen die Dirigenten Andris Nelsons, Riccardo Chailly, Gustavo Dudamel, Christian Thielemann und Daniel Barenboim (siehe Artikel unten). Rattle ist seit 2002 im Amt. 2017 tritt er als Chefdirigent des London Symphony Orchestra an und will dann ein Jahr lang pendeln.
Entscheidung in Kirche
Wohl kaum ein Spitzen-Orchester weltweit ist so autonom wie die Berliner Philharmoniker. Die Musiker entscheiden über das Programm, die Auftritte - und ihren Boss. Wer bei den Philharmonikern Chefdirigent wird, ist ausschließlich Angelegenheit der 124 Musiker, die sich am Montag zur Diskussion und Abstimmung an einem zunächst geheim gehaltenen Ort in Berlin versammelten. Seit 10 Uhr tagen die Musiker in der evangelischen Jesus-Christus-Kirche in Berlin-Dahlem. Dutzende Journalisten sowie Kamerateams warteten am Montagnachmittag vor dem Gotteshaus.
Der Backsteinbau aus dem Jahr 1931 dient seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs wegen seiner guten Akustik auch als Aufnahmestudio für die Philharmoniker. Herbert von Karajan realisierte dort in den sechziger und siebziger Jahren fast alle Schallplattenprojekte mit den Berlinern.
Handys abgegeben
Die Abstimmung selbst ist fast so verschwiegen wie eine Papstwahl. Damit auch alles bis zur Verkündung geheimbleibt, mussten die Musiker ihre Handys vor der Tür abgeben. Zunächst kann jeder Name vorgeschlagen werden, danach entsteht eine „Shortlist“ mit den bevorzugten Kandidaten. Der Gewinner muss eine „deutliche Mehrheit“ bekommen. Wie viele Stimmen das sind, will das Orchester nicht verraten.
Die Autonomie geht auf die Gründungszeit zurück, als sich 1882 aus einer Unterhaltungskapelle 54 Musiker abspalteten und das Berliner Philharmonische Orchester gründeten. Das weitgehende Recht auf Selbstverwaltung wurde 1952 mit dem Berliner Senat geregelt und 1992 ergänzt.
Mehr über die aussichtsreichsten Kandidaten auf die Rattle-Nachfolge finden Sie im Folgenden.
Es ist so geheimnisvoll wie bei einer Papstwahl. Mit dem Unterschied, dass keiner der Kandidaten am Konklave teilnehmen darf. Und vermutlich wird der am Ende Gekürte dann auch nicht so cool wie Papst Franziskus auf den Balkon gehen und sagen: "Buona sera!"
Am Montag treten in Berlin, an einem nicht bekannten Ort, die 127 wahlberechtigten musikalischen Kardinäle der Berliner Philharmoniker zusammen, um den Nachfolger des Mitte 2018 zurücktretenden Sir Simon Rattle zu wählen, damit es ja keine Sedisvakanz gibt. Chefdirigent der Berliner Philharmoniker – das ist fast eine Art Heiliger Vater der Klassik. Der Neue tritt in die Fußstapfen (zumindest nominell, ob auch künstlerisch, lässt sich nur mutmaßen) von Größen wie Hans von Bülow (1887–1892), Arthur Nikisch (1895–1922), Wilhelm Furtwängler (1922–1945 sowie 1952–1954), Herbert von Karajan (1954–1989) oder Claudio Abbado (1989–2002).
Kein einziger der stimmberechtigten Musiker äußerst sich öffentlich über aussichtsreiche Kandidaten. Wählbar ist theoretisch jeder Dirigent weltweit. In der Orchesterversammlung entsteht aus Vorschlägen der Mitglieder eine Shortlist, daraus wird der neue Chefdirigent gewählt. Noch aus der Versammlung wird er kontaktiert und gefragt, ob er das Amt auch annehmen wolle – erst danach gehen die Berliner an die Öffentlichkeit.
Aber wer sind nun die Kandidaten? (Dass es eine Kandidatin wird, gilt im immer noch stark männerdominierten Business als so gut wie ausgeschlossen.)
Der Beste ist draußen
Leider nicht mehr Mariss Jansons(72). Der allseits geschätzte Orchesterleiter gab Freitag bekannt, seine Position als Chefdirigent des Symphonieorchesters des Bayrischen Rundfunks bis 2021 zu verlängern und nahm sich damit selbst aus dem Rennen. Er wäre der Beste für Berlin gewesen, öffnet aber möglicherweise mit seiner Entscheidung für München die Tür für einen anderen: Christian Thielemann (56). Dieser ist der Ideale für das deutsche Repertoire, von dem sich die Berliner zuletzt immer weiter entfernt haben. Thielemann ist seit 2012 Chef der Sächsischen Staatskapelle Dresden und Publikumsmagnet der Salzburger Osterfestspiele. Er wäre der logische Chef, gilt aber vielen in Berlin als zu konservativ.
Durchaus Chancen darf man dem 37-jährigen Andris Nelsons einräumen. Er ist bis 2019 Leiter des Boston Symphony Orchestra, würde dem Ruf der Berliner aber wohl folgen. Unwahrscheinlich ist eine Wahl von Gustavo Dudamel (34), der als talentiertester unter den Jung-Maestri gilt. Sein Vertrag mit dem L. A. Philharmonic Orchestra läuft bis 2021.
Ein Kompromisskandidat könnte Riccardo Chailly (62), seit Jänner Musikdirektor der Mailänder Scala, sein. Er ist in Deutschland enorm geschätzt.
Montag soll jedenfalls C-Dur erklingen, wenn schon nicht weißer Rauch aufsteigt.
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